Gott in den Bäumen
Der Totensonntag und ein Buch mit »Lebensendgesprächen« von Iris Radisch
November ist die Zeit des künstlichen Lichts und der imitierten Wärme, es ist die Zeit, da uns täglich etwas Vergangenes einfällt. Vielleicht, weil just in diesem Monat stärker als sonst im Jahr ein bedrängendes Gefühl für die Zukunft aufkommt: den Tod. Denn: Nebel verwischt die Dinge - vorbei die glänzenden Kastanien und das sonnenleuchtende Laub. Plötzlich entdecken wir wieder, dass Nebel, rückwärts gelesen, Leben heißt. Ja, die Dinge verwischen, nur die letzten nicht. »Die letzten Dinge« heißt das Buch mit achtzehn »Lebensendgesprächen«, die »Zeit«-Journalistin Iris Radisch zwischen 1990 und 2015 mit Künstlern und Intellektuellen führte, von Antonio Tabucchi bis Imre Kertész, von Peter Rühmkorf bis Patrick Modiano. Lebende und inzwischen Gegangene. Gespräche an den Grenzlinien zu jenem Abberufungsbescheid, den das Sterben ausstellt. Letzte Dinge? Beständige Dinge. Ständige Fragen. Die zum Beispiel auch der Totensonntag in uns aufruft.
Friederike Mayröcker kann den Gedanken nicht ertragen, dass nach ihrem Tod »die Welt weitergeht. Das ist eine Benachteiligung!« Und der russische Schriftsteller Andrej Bitow sagt: »Die Welt ist fröhlicher als wir. Wir sterben, aber die Welt stirbt nicht.« Soll das ein Trost sein? Angesichts der Empfindung, wie wir sie aus Kriminalfilmen kennen: Ein Mensch spürt sehr unbestimmt, dass ihm jemand folgt. Der uns da folgt, ja, ist der Tod. Vielleicht steht er schon da vorn, an einer Straßenbiegung. Sieht uns an. Wir schauen durch ihn hindurch. Bilden uns ein, das zu können. Aber man kann dagegen andenken, kann gewaltige Utopien konstruieren, also Ausgleichs- und Verdrängungsverfahren des Glaubens oder der Abstraktion entwickeln (Julien Green nennt den Atheismus einen »Mangel an Vorstellungskraft«) - es nützt nichts. Dasein geschieht unter dem feinen Blütenfall des Nachlassens und des Aufgebens. Lebenslauf ist Lauf aufs Ende zu. Im besten Falle: ein Langlauf. Schön, wenn er in die Natur führen darf: »Ich glaube eher an Bäume als an Gott. Ich glaube an viele Gottheiten in den Dingen.« Sarah Kirsch im Gespräch mit Iris Radisch.
Der Tod tritt nicht ein, er schlägt zu; noch dort, wo er jemanden sanft erlöst, vernichtet er. Das präzisere Wort für Tod wäre: totale, ewige Auslöschung. Denn davon, dass wir einem Verabschiedeten die Treue durch Erinnerung halten, hat der Betreffende nichts. Und auch Erinnerung erkaltet. Deshalb ist kein Gedenken frei vom Gedanken: Wann ich? Das Thema Tod ist das einzige, das unendlich viele Menschen beschäftigt, ohne dass nur ein einziger Lebender eine Erfahrung hätte mit dem, was seine Ängste und Visionen auslöst. Jeder Morgen: Wird schon gut gehen. Auch heute. Warum gerade ich? Lächeln, Augen auf und durch. Der ungarische Schriftsteller Peter Nádas, der den Weg vom Herzinfarkt zurück ins Leben erfuhr, hat ein Buch über seine Nahtoderfahrung geschrieben, das im Gespräch mit Radisch zum Thema wird: »Ich nehme im Sterben etwas zur Kenntnis, was ich schon vorher gewusst habe. Ich wurde schon einmal geboren. Dieses vorbegriffliche Erlebnis habe ich durchs Leben geschleppt.« Man erfährt da weit Tieferes als aus den Katalogen des klaren, aufgeklärten Wissens. Es gebe eine Transzendenz, so Nádas, die »verbindet uns alle, uns Wirbeltiere, und meinetwegen sogar die Menschen mit den Blättern«.
Wunderbar provokative Sätze fallen in Radischs Gesprächen: »Ich halte die Internationale der Kleinbürger für die einzig funktionierende« - sagt Martin Walser und verweist so sämtliche Bewusstseinsoptimierer auf das entscheidende Prüffeld, menschennah zu denken und zu fühlen. George Steiner zu den Gründen für Antisemitismus: Jesaja, Jeremias, Marx, das seien drei großartige »Fälle jüdischer Erpressung im Namen eines Ideals« gewesen, »dreimal sagt der Jude zu den Menschen, du musst besser sein, als du bist. Dafür gibt es kein Verzeihen. Und wird es nie geben.« Unbegreiflich, warum der Mensch immer wieder aggressiv reagiert, wenn ihm Güte, Läuterungskraft zugemutet wird. Die Schlussfolgerung: »Wir sind auf der Welt, um Kafka wahr werden zu lassen«, so Andrej Bitow, der die Schuld des sowjetischen Imperiums benennt: »Das Volk hat Geist und Glauben in dieses System investiert, das Hauptverbrechen der Sowjetunion war das gegen den natürlichen menschlichen Idealismus.«
Ilse Aichinger vergisst nicht »den Anblick meiner Großmutter im Viehwagen auf der Schwedenbrücke in Wien. Und die Leute um mich herum, die mit einem gewissen Vergnügen zugesehen haben.« Deportation als Vorstufe eines Volksfestes. Barbarisch. Und plötzlich sagt die Dichterin das Erschreckende: »Der Krieg war meine glücklichste Zeit. Man wusste sehr genau, wo Freunde sind und wo nicht.« Diese elende Bitternis der Frontenbildung, die bis heute Leben schändet und Gräber pflegt, als seien sie das eigentliche Ziel. Ilse Aichinger und der eisige Spieltrieb des Todes: Ihr und Günter Eichs Sohn Clemens stirbt mit 43 Jahren an den Folgen eines Sturzes im Wiener Allgemeinen Krankenhaus. Der junge Literaturwissenschaftler Richard Reichensperger wird daraufhin Aichingers Betreuer, ihr Helfer, er stirbt sechs Jahre später als der Sohn - an den Folgen eines Sturzes, mit 43 Jahren, im selben Krankenhaus.
Sind Anfang und Ende einer Existenz nicht nur brüchige Haltegriffe, weil wir etwas Größeres nicht zu fassen vermögen? Unser Versuch, das Unerfassliche fantasierend zu übersteigen - es befreit uns, gleichzeitig verstrickt es uns nur tiefer ins Ohnmächtige, Ausgesetzte, Zufällige unserer Existenz, der kein wirkliches Ergründen ihrer selbst gegönnt sein wird. Nie. »Aber jeder Mensch ist eine Art Matrjoschka und trägt die Traumata, die Sehnsüchte und Enttäuschungen der vorangegangenen Generationen mit sich herum.« Amos Oz.
Totensonntag, das ist direkte Nähe zum Dezember. Advent, Heilige Nacht, Monate später dann Karfreitag und Ostersonntag. Theologie ist Brecht, also episches Theater: eines schön nach dem anderen. Im Leben aber fallen Weihnachten und Ostern immer auf einen Tag: Kommen und Gehen, Willkommen und Abschied, ein ewiger Gegenstrom. Dass wir im Dreck der Zeit immer wieder den Kopf heben, gegen Terroristen, gegen den Krebs, gegen den Feldzug der Demenz, gegen jeden Angriff, den sich der Tod ausdenkt - dieses Kopfheben kommt von den Ungeborenen. Denn die wissen als einzige noch nichts von der Schwerkraft. Die Schwerkraft kommt von den Toten, sie ziehen alles bis unter die Erde.
Tod bedeutet Verhältnislosigkeit, sagt die Forschung - Leben sei das schöne Gegenteil: Beziehungsreichtum. Der Tod tritt daher schon dann in Erscheinung, lautlos mitunter wie der Sand einer Uhr, wenn Beziehungen brechen, fehlen, verwehen. Um Beziehungen zu stören, hat der Tod viele Namen: Gewöhnung, Anpassung, Selbstgewissheit, Perfektion, Gier, Geltung, Macht. Der Tod ist in diesem Kampf gegen Beziehungen ein verflucht geschickter Stückwerkmeister; Tag für Tag, Augenblick für Augenblick - da ein wenig Vernichtung, und dort. Aber: Wo Beziehungen jedoch dauern dürfen, da ist man schon weniger tot - mitten im Dasein. Ruth Klüger: »Wenn man wissen will, was der Sinn des Lebens ist, muss man sich eine Katze ansehen, die den ganzen Tag schläft. Da weiß man, dass der Sinn des Lebens einfach das Leben ist.« Ein freundlicher Aufruf, unnütz zu sein. Schließ einen Handel mit deiner Sünde, dich verausgaben zu wollen, und zwar nach genauem Stundenplan.
Wir gedenken. Wir, die befristet Überlebenden. Gedenken ist Liebe, ja ja, und nochmals ja, aber: Es ist auch Macht. Es ist die unglücklichste Macht, die ein Mensch über den gestorbenen Menschen ausübt: dies Überleben - die Kraft des Todes, uns Tränen zu entlocken, trifft sich mit dem Angebot des Lebens, sie zu trocknen. Noch das gepflegteste Grab bestätigt nur, dass der geliebte, verehrte Tote fort ist. Fort! Wir noch nicht. Das bleibt jene grundlegende Tatsache, die so unfassbar scheint, die aber - sind wir außerhalb der Friedhofsmauern nur ehrlich uns selbst gegenüber - furchtbar einfach zu begreifen ist.
Iris Radisch: Die letzten Dinge. Lebensendgespräche. Rowohlt Verlag Reinbek bei Hamburg. 330 S., geb., 19,95 Euro
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