Wo der Derwisch wirbelt
Martin Leidenfrost besuchte die säkularsten Türken und förderte die Wiedervereinigung Zyperns
In Nordzypern leben »die demokratischsten, tolerantesten, säkularsten, humorvollsten und gebildetsten Türken der Welt«, schreibt ein lokaler Kolumnist. Das macht neugierig; darüber hinaus will ich mich anwehen lassen vom Hauch der Geschichte. Nachdem ich in Europa so ziemlich alle Separatismen abgegrast habe, sehe ich mir den einzigen Fall einer gegenläufigen Bewegung an - griechische und türkische Zyprioten verhandeln über die Wiedervereinigung der geteilten Insel. Die »Türkische Republik Nordzypern« (TRNZ), nur für die Türkei ein anerkannter Staat, für das EU-Mitglied Südzypern »besetztes Territorium« und für die EU ein »Sondergebiet«, gibt es vielleicht bald nicht mehr. Die Zyperntürken haben die Isolation satt.
Ich komme am Abend des Nationalfeiertags an. 1974 von der türkischen Armee besetzt, rief Nordzypern am 15. November 1983 die Unabhängigkeit aus. Eine ziemlich namenlose Person vom Außenministerium schickt mir Fotos der Feierlichkeiten: Trachtenpaartanz, abstrakte Kunst, Theater mit gerüschten Kniehosen, eine Siebenerstaffel der türkischen Luftwaffe an der Küste.
Ich komme aus Griechisch-Nikosia, die Gastgärten in der Ledra-Straße sind voll. Die Altstadt liegt unmittelbar anschließend in Türkisch-Nikosia, dort falle ich aber in ein schwarzes Loch. Eine Reklametafel für einen »wirbelnden Derwisch«. Belebt ist nur das Kasino »Saray«. An den Spieltischen sitzen Türken, fahlhäutige Engländer und Russen, paffen wie verrückt, livrierte Kellner bringen Bier und Tee in bauchigen Gläsern. Rundherum hat am Nationalfeiertag um neun alles zu. Kaum ein Mensch und kaum ein Hotel, ich lande in einer Billigpension mit ostanatolischem Flair. Das Nachtleben ist in die Osman-Pascha-Straße der Neustadt ausgelagert.
Am nächsten Morgen glotze ich nur so, denn ich werde in derselben Altstadt von Hunderten Reisegruppen niedergetrampelt. Das mit den säkularsten Türken scheint zu stimmen. Zyperntürkinnen tragen kein Kopftuch, allenfalls afrikanische Studentinnen gehen bedeckt. Bei weniger als 300 000 Einwohnern beherbergt die TRNZ angeblich 70 000 Studierende, wie auch in Südzypern stammen viele aus Afrika. Ein gelangweilter Riese aus Nigeria erklärt mir: »Im türkischen Teil studieren die Afrikaner, denen keiner gesagt hat, dass ihr Diplom nirgends anerkannt wird.« Die Afrikaner pendeln umstandslos zwischen Süden und Norden; von den jungen Zyperntürken, die ich frage, war keiner je im griechischen Teil.
Dass mir kein Repräsentant der TRNZ ein Interview gewährt, verstimmt mich fast gar nicht. Der neue Präsident verhandelt mehrmals in der Woche mit dem zyperngriechischen Kollegen, die Außenminister der Großmächte fliegen mit Lobesworten ein, 170 000 Zyperngriechen und 50 000 Zyperntürken erlitten Vertreibung, auf der Insel stehen vier Armeen - lassen wir sie doch in Ruhe an etwas so Schönem wie Vereinigung arbeiten! Gerne hätte ich die Nationalbank besucht, die keine eigene Währung herausgibt und die Umstellung auf den ohnehin überall akzeptierten Euro vorbereiten soll. Aber auch so ein Nationalbankchef, ein Ausländer aus der Türkei, der den ganzen lieben Tag lang nur türkische Lire einführt, hat keine Zeit. Lassen wir ihn doch seine letzten Tage in dem gewaltigen sandfarbenen Bunkerbau genießen!
Um wenigstens ein bisschen orientalische Mystik zu schnuppern, gehe ich zum wirbelnden Derwisch, sieben Euro. Als ich auf den jungen Sufi pakistanischer Herkunft warte, komme ich mit einer verhuschten Petersburger Blondine ins Gespräch. Sie ist nicht mehr ganz jung und esoterisch veranlagt, den Edelstein in ihrer Stirnmitte begründet sie mit Puschkins »Märchen von Zar Saltan«. Sie ist zweimal geschieden, hat einen kleinen Sohn. Nun ist sie unerwartet schwanger. Vom wirbelnden Derwisch! Nach wenigen Wochen! Ich entschuldige mich für die persönlichen Fragen. Sie wehrt ab: »Nein, nein, ich bin selber schockiert!« Nun tritt der zuständige Sufi auf. Er beginnt ganz langsam, mit würdigen Schritten und Verbeugungen, steigert sich in eine gleichmäßig wirbelnde Bewegung, sein weiter weißer Rock weht in vollkommener Harmonie. Ich aber kann mich einfach nicht konzentrieren. Ich weiß nämlich, dass der Derwisch »durchaus trinkt«, dass er »keineswegs fünf Mal am Tag betet«, dass er »ein normales Leben führt«. Mich bei den säkularsten Türken der Welt in sufische Mystik zu versenken, das ist mir nicht gegeben.
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