Als Sidney Poitier schwieg und warum wir es auch tun sollten
Roberto J. De Lapuente über den menschlichen Umgang mit den Pariser Attentaten
Der Trubel war einschüchternd. Noch Tage nach den Pariser Anschlägen konnte man gucken wohin mal wollte, immer dasselbe Thema, immer wieder wilde Kommentare und spekulative Stellungnahmen. Alles voller Aufregung, Verdächtigungen, Schuldzuweisungen, dann neue Skandale und neue Terror-Warnungen. Und da noch ein Fachmann mit noch einer tragischeren Erkenntnis. In den sozialen Netzwerken tobte der Kulturkampf - Humanismus Null, Hass Drei. Alle Welt schien aufgeschreckt, war laut und hatte sofort Meinung, Zukunftsprognose und Erkenntnis parat. Ich konnte die Kakophonie aus Lautstärke und Rechthaberei, aus Angstmache und Krach nicht mehr ertragen und machte mir Netflix an, wollte irgendwas Belangloses ansehen und klickte auf eine Dokumentation zum Oscar, schöne alte Aufnahmen von dazumal. Darsteller, die ich als Kind noch gesehen hatte, weil die Sender noch Klassiker ausstrahlten. David Niven, Humphrey Bogart, Bette Davies und Sidney Poitier. Letzterer war Thema, weil er der erste schwarze Preisträger seit Jahrzehnten war. Und generell der erste Schwarze, der als Hauptdarsteller gewann.
Wie gesagt eigentlich alles belanglos. Doch dann zeigten sie, wie Poitier Backstage mit einem Reporter sprach und plötzlich fand ich es gar nicht mehr so belanglos. Reporter: »Die Tatsache, dass Sie ein Schwarzer sind, hat das ihren Gewinn bedeutungsvoll gemacht?« Poitier: »Sie müssen mich eine Weile darüber nachdenken lassen – eine sehr interessante Frage. Und ich würde es vorziehen, sie nicht zu beantworten in meiner Aufregung. Ich würde lieber gesammelt sein, um mich mit so einer Frage auseinanderzusetzen.« Exakt dasselbe habe ich mir für das Stimmengewirr vorher gewünscht, für die Schreihälse und politischen Claqueure, für die Meinungsmacher und Fachleute, für die Journalisten und die Netzgemeinen. Denkt doch alle erst nach, lasst die Aufregung abflauen, sammelt euch und dann, ja dann … sagt was dazu.
Leider scheinen wir das verlernt zu haben. Wir reflektieren und fackeln nicht lange, bellen drauf los. Ob nun Journalisten, die die erste Schlagzeile schon liefern müssen, bevor ein Ereignis überhaupt abgeschlossen ist oder die, die sich im Internet versammeln, um Anteil zu nehmen an den Geschehnissen. Alle sind sie sofort mit Meinung, Ansicht und Einschätzung am Werk. Dabei nähren sie oft nur Vorurteile und bauen ihre Informationen auf Berichterstattungen, die nicht komplett sind, sondern mehr so eine Ausgeburt eines minutiös betriebenen Skandalismus. Jeder redet wild umher, solange bis alle durcheinander schwatzen. In diesem kommunikativen Gewirr herrscht Aufregung und Wut, Freude oder Hass – oder ein Gemisch aus allem. Gefühle halt. Menschliche Regungen, die man in der politischen Einschätzung möglichst ausklammern sollte, wenn man zu einer nüchternen Betrachtung gelangen möchte.
Nüchtern sind wir aber nur noch selten. Gefühlstrunken bestreiten wir allerlei heutzutage. Auch politische News. Wir sind ja alle Menschen. Und Gefühle sind eben menschlich. Daher müsste man, wenn es einen übermannt, erstmal zu Protokoll geben, zunächst lieber nichts dazu zu sagen. Das hat Poitier seinerzeit genau so gemacht. Viele haben ihm natürlich Feigheit attestiert. Aber es war vernünftig - und es wäre heute immer noch vernünftig, wenn man es genau so handhaben würde. Es wäre eine zivilisatorische Kulturleistung, sich nicht in der Stunde der Gefühlswallung zu Statements hinreißen zu lassen, sondern abzuwarten um sich zu beruhigen. Man kann als Politiker Terroranschläge auch zwei Tage später kommentieren. Journalisten können Indizien abwarten und müssten so nicht mit Spekulationen hantieren und würden so auch die »Netzgemeinde« cooldownen und entemotionalisieren. Wie gesagt, es wäre eine zivilisatorische Kulturleistung. Aber das Gegenteil ist der Fall und auch aus diesem Grund bröckelt der dünne Lack der Zivilisation langsam ab und der Hass spritzt aus den Netzwerken wie zu heißes Öl aus einer Pfanne.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.