Häuser bauen oder Ideen?

Die Erinnerungen des Architekturkritikers Bruno Flierl: »Selbstbehauptung«

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 5 Min.
Der Architekt Bruno Flierl beschreibt aus sehr persönlicher Sicht die Architektur der DDR und der Bundesrepublik nach 1990. Ein Blick zurück nicht nur im Zorn und voller Neugier für das Heutige und Kommende.

Harmonie zwischen ihnen ist eine Täuschung. Sie streiten ums Größte: um den Beginn oder das Ende der Welt. Die Architekturen und die Horizonte. Wer von beiden öffnet, wer verschließt? Wer vereint den Himmel mit der Erde, wer dagegen schlägt den Himmel in die Flucht?

Hinaus!, locken die Horizonte. Hinauf!, gieren die Architekturen. Ziegel gegen Fels, Beton gegen Gras, Licht gegen Mauern, Wolken gegen Wucht. Es scheint, dass sich in Begriffen wie Häusermeer oder Straßenschluchten letzte assoziative Anleihen aus entlegener Natur offenbaren - freundlich gemeinte rhetorische Übernahmen, um eine schon Jahrhunderte währende unfreundliche Landnahme durch Bau und Besiedlung zu kaschieren. Die Architekturen und die Horizonte. Gegner und Gekoppelte, Konkurrenten und Partner, man befördert und zerstört einander in treu bewahrter Konfliktlage. Der Mensch, immer beheimatet zwischen Traum und Trümmern, als Turm- und Trassen- und Tunnelbauer. Und alles kann mit der Aufforderung beginnen: »Schau mal aus dem Fenster!«

So beginnt im Nachkriegsberlin der Weg von Bruno Flierl in die Architektur. Sein Vater, Leiter des Amtes für Aufbau in Schöneberg, richtet eines Tages den Blick des Jungen auf die Ruinen der vernichteten Stadt, und im Planen und Konstruieren des Neuen könnte sich die gedoppelte Leidenschaft des Sohnes für Kunst und Wissenschaft gedeihlich vereinen. Bruno Flierl, geboren 1927, wird Architekt, Bautheoretiker, Publizist, er ist viele Jahre einer der wesentlichen Lehrer an der Bauakademie der DDR und an der Humboldt-Universität. Nun legte er seine Erinnerungen vor: »Selbstbehauptung. Leben in drei Gesellschaften«. Eine Existenz, wie der Autor im »Vorsatz« schreibt, in der er sich allzeit »allein mit anderen« fühlte, »was mich prägte, war ›Alleinsamkeit‹«. Eine treffliche Sprachfindung für den treibenden wie drückenden Widerspruch zwischen kollektiven Bindungen und einer Geborgenheit, die nur im Einvernehmen ganz mit sich selbst erreichbar ist. Der Bau der Städte als Gemeinschaftsimpuls, das einzelne Haus als Abgrenzung zu allen Arten von Vereinnahmungstechniken.

Im Grunde ist dieses Buch, das der Autor seinen Kindern Anne und Thomas Flierl widmet, eine (Architek᠆tur-)Geschichte der DDR aus sehr persönlicher Sicht. Flierl schreibt nicht ausmalend, literarisch, er reflektiert direkt; der Wissenschaftler, der Theoretiker, der Ausführende, der Vortragende, sie alle sind ihm weit näher als der Erzähler, aber das gibt dem Buch nicht nur eine glaubwürdige Kompetenz, sondern auch eine unverblümte, niemals vordergründig auf Wirkung zielende Argumentationsdichte. Durch sämtliche architekturspeziellen Probleme entlang der Hauptkonfliktlinien des DDR-Geschehens, vom 17. Juni 1953 über den Mauerbau bis zu den Oktobertagen 1989, zieht sich Flierls kämpferisches Streiten um seine entscheidende Auffassung: »Architektur und bildende Kunst nicht als Elemente einer künstlerischen, primär ideologisch fixierten Synthese, sondern als Elemente komplexer ästhetischer Umweltgestaltung im Lebensraum der Menschen in der Dimension von Haus, Stadt und Landschaft zu begreifen«.

Wer vor solchen Sätzen keine Angst hat, findet eine Fülle von Details zu einer Kultur- und Gesellschaftspolitik, bei der Beteiligte wie Flierl ständig zwischen Berufung und Entlassung, Bekräftigung und Entwertung hin- und hergeworfen wurden. Dresdens Prager Straße, die Kunstausstellungen der DDR, die Zerstörung von Baudenkmalen der Industriekultur des 19. Jahrhunderts - Flierl inmitten, so kritisch wie vergeblich, so vergeblich wie dennoch weiter engagiert. Dafür, dass man nicht nur Gebäude baut, sondern Ideen. Dafür, dass man auf Parteihöhen beim Wort Grundriss nicht nur immer an die bekannte geschichtsschreibende Ödnis denkt, dass man weniger propagandistischen Aufriss betreibt und dass man bei bürgerlichen Traditionen nicht sofort Abriss befiehlt.

Eingebettet ins berufliche Lebensbild: persönliche, familiäre Glücks- und Unglücksmomente, Porträts von Freunden und Frauen, Beschreibungen von Liebesmühen und Reisefreuden und Krankheitssorgen, eine mähliche Blickwendung hin zum Tode - der ist nicht die Vollendung, sondern »die Erschöpfung des Lebens«. Ein offenes Gemahnen auch daran, sich zu wenig um die eigenen Eltern gekümmert, in der eigenen Überforderung durch Beruf und Schicksalsschläge oft zu unbeherrscht und ungerecht gewesen zu sein. Jahre nach dem Tod der Mutter findet Bruno Flierl ihr Tagebuch: »Das war mein armseliges Leben«.

Flierl ist ein Fremder geblieben in dieser Bundesrepublik. Fremd, aber neugierig. Er dreht einen Film über Manhattan, er schreibt über den geplanten neuen Alexanderplatz, und so verbinden diese Erinnerungen Welt-Anschauung und Welt-Bebauung - das Buch weckt den sorgenvoll fragenden Blick gegen globales Klotzen, es beschwört gegen kapitalistische Praktiken die menschlichen Dimensionen beim Verwenden von Beton, und willkürlich durchfährt dich ein Schrecken, wohin das alles laufen könnte.

Denn: Wie das Land der Träume, in dem Alice umherwandert, ist die Stadt längst ein Irrgarten des Absurden, eine Geschichte ohne Vergangenheit und Zukunft. Das Vergangene existiert nicht mehr, das Zukünftige ist bereits überholt. Während sich aber Alice am Faden ihrer eigenen Fantasie vorantastet, sind die Weiten der modernen Stadt ein Archipel von Monaden, zwischen denen es keinerlei Verbindungen gibt. Wir leben mehr und mehr in einer Kultur der Sicherheitszonen. Man isoliert sich durch Mauern und elektronische Alarmanlagen. Es funktioniert ein reibungsloser Rassismus: Jeder Körperkontakt ist nahezu ausgeschlossen. Städtische Gegenden begannen einst als Traum, anonym bleiben zu dürfen. Daraus wurde eine Welt, in der keiner mehr einem anderen wirklich begegnet. Die unzüchtige Vereinigung des kalten Mathematikers mit der kleinen Alice wird unaufhaltsam weitere Monster gebären.

Bruno Flierl: »Was mich betrifft, sage ich: Solange ich lebe, und das ist nur noch eine kurze Zeit, lasse ich nicht davon ab, für eine menschliche Zukunft einzustehen - freilich ohne konkrete Vision, aber auch frei von Illusion.«

Bruno Flierl: Selbstbehauptung. Leben in drei Gesellschaften. Theater der Zeit. Engl. Broschur. 416 S., mit Fotos. 28 €.

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