Eine Entscheidung der Wähler

Gert G. Wagner über ungleiche Renten zwischen Ost und West und die Frage, wie diese Differenz abgeschafft werden kann

  • Lesedauer: 3 Min.

Im Koalitionsvertrag ist vorgesehen, dass die Unterschiede im Rentenrecht für Ost- und Westdeutschland mehr als ein Vierteljahrhundert nach der Vereinigung beseitigt werden sollen. Das ist aber alles andere als einfach. Denn die Versicherten in Ostdeutschland wollen im Ergebnis ja keine niedrigeren Renten bekommen. Der Sozialbeirat, der die Regierung in Rentenfragen berät, macht in seinem kürzlich vorgelegtem Gutachten deutlich, dass es keine eindeutig gerechte oder ungerechte oder gar richtige oder falsche Lösung geben kann. Wie sich der Bundestag als Gesetzgeber entscheidet - ob er zum Beispiel erst einmal alles so lässt, wie es ist, oder Angleichungsschritte beschließt -, kann nur politisch, das heißt mit der Mehrheit der Abgeordneten entschieden werden.

Um das Ganze zu verstehen, muss man sich vergegenwärtigen, wie gesetzliche Renten berechnet werden. Sie hängen zum ersten davon ab, wie viel man als Erwerbstätiger im Vergleich zu anderen verdient hat. Dies wird in »Rentenpunkten« ausgedrückt. Wie hoch der Durchschnittsverdienst in einem Bundesland ist, spielt dabei grundsätzlich keine Rolle. Wer exakt das in ganz Deutschland erzielte Durchschnittseinkommen verdient, bekommt pro Jahr Erwerbstätigkeit exakt einen Punkt. Andere mehr oder weniger. Und was ein Punkt später für die Rente wert ist, das hängt zum zweiten vom »aktuellen Rentenwert« ab, der angibt, wie viel Rente in Euro pro Monat ein Punkt bringt. Das sind im Moment 29,21 Euro - in Ostdeutschland aber nur 27,05 Euro.

Dies wurde nach der Wende damit begründet, dass der Durchschnittsverdienst in Ostdeutschland niedriger war und die Rentner nicht besser gestellt werden sollten als Erwerbstätige in Ostdeutschland. Zum »Ausgleich« werden aber auch die »Rentenpunkte« anhand des niedrigeren ostdeutschen Erwerbseinkommens berechnet. 2015 sind das 34 999 Euro in West- und 29 870 Euro in Ostdeutschland; für die DDR-Zeit wurde der in Mark ausgezahlte Durchschnittslohn dem westdeutschen DM-Durchschnitt gleichgesetzt. Das heißt, es war und ist für den Einzelnen im Osten - gemessen am gesamtdeutschen Einkommensdurchschnitt - einfacher, Rentenpunkte zu erwerben als im Westen.

Das bedeutet: Da das Durchschnittsentgelt (Ost) stärker unter dem westdeutschen Niveau liegt (2015: 85 Prozent) als der aktuelle Rentenwert (Ost) unter dem aktuellen Rentenwert (93 Prozent), überwiegt der Einkommenseffekt bei der Berechnung der Rentenpunkte: Die ostdeutschen Rentenversicherten erwerben derzeit bei gleich hohem Entgelt um 8,5 Prozent höhere Rentenansprüche als die westdeutschen Versicherten. Dabei sei auch zu bedenken, so argumentieren manche, dass die faktische Höherbewertung der Renten in Ostdeutschland »gerecht« sei, da dort Betriebsrenten praktisch keine Rolle spielen und kein Zubrot darstellen. Auf der anderen Seite sind die Lebenshaltungskosten im Durchschnitt in Ostdeutschland niedriger als in Westdeutschland. Was ist nun gerecht?

Würde man die »Ungerechtigkeit« des niedrigeren »aktuellen Rentenwerts« im Osten »beseitigen«, dann müssten - nach der Logik des Rentensystems - auch die Rentenpunkte neu berechnet werden. Sie würden nach dem höheren gesamtdeutschen Durchschnitt berechnet. Und durch diese vollständige Angleichung des Rentenrechts würden ab sofort die Beitragszahler im Osten niedrigere Rentenansprüche erwerben. Ist das aus ostdeutscher Sicht gerecht? Würde man nur den aktuellen Rentenwert erhöhen, würden die Renten in Ostdeutschland um etwa acht Prozent steigen. Wäre das aus westdeutscher Sicht gerecht?

Was kann Ost-West-Rentenangleichung also bedeuten? Die Antwort ist alles andere als einfach. Und wenn - als Ausweg - die Erhöhung der Renten in Ostdeutschland durch die Angleichung des aktuellen Rentenwertes komplett aus Steuergeld finanziert würde (gegenwärtig etwa vier Milliarden pro Jahr), wäre die Antwort besonders schwierig zu geben, da dann nicht nur Rentenversicherte und Rentner betroffen wären. Und für wie lange sollte ein solcher Zuschlag gelten? Wer würde das als gerecht oder ungerecht empfinden?

Expertinnen und Experten können den Sachverhalt nur möglichst gut erklären. Letztendlich entscheiden die Wählerinnen und Wähler und dann der Bundestag mit Mehrheit, wie es weitergehen soll.

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