Die taumelnde Senatskoalition
Die LAGeSo-Krise zeigt, in welchem desolaten Zustand Rot-Schwarz in Berlin ist
Berlins Sozialsenator Mario Czaja (CDU) kommt an diesem Donnerstagmorgen als einer der Letzten ins Plenum des Abgeordnetenhauses. Wie immer in feines, dunkelblaues Tuch gekleidet, gibt er seinen Kollegen auf den Senatsbänken höflich die Hand und klatscht dem Justizsenator sogar herzlich auf den Rücken. Die Reaktionen fallen verhalten aus.
Czaja, der seit Monaten wegen der Krise beim Landesamt für Gesundheit und Soziales (LAGeSo) in der Kritik steht, fängt an, hastig Nachrichten auf seinem Smartphone zu tippen. Dann holen, medienwirksam inszeniert, CDU-Innensenator Frank Henkel sowie der CDU-Fraktionschef Florian Graf den umstrittenen Sozialsenator von seinem Platz ab und lotsen ihn in die Mitte des Plenarsaals. Die drei CDU-Politiker bilden dort eine Art kleine Wagenburg. Die Botschaft: Seht her, wie stärken unserem Mario Czaja den Rücken – vom Koalitionspartner SPD stellt sich niemand dazu.
Für Czaja dürften der Mittwochabend und die Nacht auf Donnerstag hart gewesen sein. Gut möglich, dass daher der etwas blasse Gesichtsausdruck stammt. Seit Monaten weisen die engeren Mitarbeiter darauf hin, wie stark sich der Sozialsenator in die Arbeit hänge, um die Verwaltungskrise bei der Flüchtlingsunterbringung zu stemmen.
Dass Czaja blässlicher als normal ist, kann aber auch damit zusammenhängen, dass sein Senatsstuhl mächtig wackelt: Für außenstehende Beobachter einigermaßen überraschend hatte Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller (SPD) am Mittwochabend den Druck auf Czaja und damit die CDU an sich noch mal drastisch erhöht. Weil inzwischen immer mehr Medien, darunter auch internationale wie die »New York Times«, über die vielen in der Kälte und Schlamm wartenden Flüchtlinge vor dem LAGeSo im Berliner Stadtteil Moabit berichten, forderte Müller ultimativ die Entlassung des Präsidenten der Landesbehörde, Franz Allert. »Wir brauchen hier eine neue Spitze im LAGeSo, die ihre Verantwortung wirklich wahrnimmt. Dafür ist die Sozialverwaltung zuständig, das zu organisieren«, hatte Müller in den regionalen Abendnachrichten erklärt. Und: »Wir sind jetzt in einer Situation, in der wir nicht mehr länger warten können.«
Bereits als die Vorabmeldung über den Ticker lief, löste Müllers Erklärung hinter den Kulissen und in den Redaktionen der Hauptstadt hektische Betriebsamkeit aus. Für den von seinen eigenen Leuten als politisches Talent gepriesenen Sozialsenator Mario Czaja stellt die ultimative Aufforderung zu handeln, eine öffentliche Demütigung dar. Czajas Optionen sind beschränkt: Belässt er den umstrittenen Franz Allert im Amt, gerät sein eigener Posten ebenfalls in Gefahr. Feuert er den Präsidenten des LAGeSo, steht Czaja als einfacher Befehlsempfänger des Regierenden Bürgermeister dar, der springt, wenn er dazu aufgefordert wird.
Czaja entscheidet sich fürs Springen: »Ich teile die Auffassung des Regierenden Bürgermeisters, dass die aktuellen Herausforderungen in der Flüchtlingsfrage auch einer personellen Erneuerung bedürfen«, heißt es in einer am Mittwochabend verbreiteten Erklärung. Außerdem lässt Czaja mitteilen, dass der Abgang Allerts, der seit Monaten an seinem Stuhl klebt, freiwillig erfolgt sei. »In Anbetracht der massiven persönlichen Kritik an Franz Allert hat dieser mich gebeten, ihn mit sofortiger Wirkung von seinen Aufgaben zu freizustellen. Ich werde dieser Bitte entsprechen und respektiere diesen Schritt«, ließ Czaja wissen.
Dass mit dem Rückzug des LAGeSo-Präsidenten die ständigen Querelen in der Großen Koalition ausgeräumt sind, glaubt indes kaum jemand. Wie stark verbal aufgerüstet wird, und welcher Stil zwischen SPD und CDU gepflegt wird, zeigen die Kommentare am Morgen danach. Der Vize-Fraktionsvorsitzende der CDU, Stefan Evers, erklärte im »RBB«, der Rückzug Allerts sei einer »öffentlichen Hinrichtung« gleichgekommen. Weil der LAGeSo-Präsident bei dem im kommenden Jahr neu zu konzipierenden Landesamt für Flüchtlingsangelegenheiten nicht mehr eingebunden werden sollte, wäre der Rücktritt Allerts somit überflüssig gewesen. Die Stadt habe nun einen teuren »Spaziergänger«, denn Allert erhalte seine Bezüge vorerst weiter, so Evers.
Für die oppositionellen Grünen und LINKEN ist Allert sowieso nur ein »Bauernopfer«. Die Fraktionschefin der Grünen, Ramona Pop, wandte sich in der Plenardebatte mit der Forderung, die politisch Verantwortlichen für die LAGeSo-Krise zu entlassen, auch direkt an den Regierenden Bürgermeister Michael Müller (SPD): »Der zuständige Senator muss die Verantwortung übernehmen«, forderte Pop. Bei der Linkspartei bezeichnete man den inneren Streit in der Koalition als »unwürdig«. »Das LAGeSo steht nur exemplarisch für die Art, wie derzeit mit Problemen in dieser Stadt umgegangen wird«, sagte der designierte Spitzenkandidat für die kommende Abgeordnetenhauswahl 2016, Klaus Lederer, dem »neuen deutschland«.
Bis zur Wahl am 18. September 2016 sind es ungefähr neun Monate. Ob die taumelnde Senatskoalition, die sich wie Boxer in den letzten Runden immer wieder gegenseitig neue Schläge verpasst, bis dahin stehen bleibt, ist abzuwarten. Krisen wie das milliardenschwere Desaster um den Großflughafen BER in Berlin-Schönefeld hat das Zweckbündnis überstanden. Auch der Rücktritt des ehemaligen Regierenden Bürgermeisters Klaus Wowereit (SPD) vor fast genau einem Jahr hat nicht zu Neuwahlen, sondern einer Fortführung der von allen Beteiligten ungeliebten Großen Koalition geführt. Ähnlich sah es beim Streit um die Ehe für alle aus.
Dass die Koalition zumindest bedingt handlungsfähig ist, wollte sie am Donnerstag bei der vorgesehenen Verabschiedung des Doppelhaushaltes für die Jahre 2016 und 2017 unterstreichen. Insbesondere die Fraktionsspitzen von SPD und CDU, Raed Saleh und Florian Graf, arbeiten im Landesparlament geräuscharm zusammen und stellen so etwas wie einen Hort der Stabilität dar, während der CDU-Generalsekretär Kai Wegner und der SPD-Landesvorsitzende Jan Stöß kaum eine Gelegenheit auslassen, den Zoff weiter zu befeuern.
Der wichtige Finanzsenator Matthias Kollatz-Ahnen (SPD) sieht einen Fortbestand der Großen Koalition dennoch nicht in Gefahr. Alle müssen alles dafür tun, dass die Koalition auch diese Wahlperiode erfolgreich zu Ende führt, sagt Kollatz-Ahnen im »Inforadio«. Aber auch der Finanzsenator muss einräumen, dass die Spannungen in letzter Zeit deutlich zugenommen haben. »Dass die Situation nicht nur durch freundschaftliche Umarmungen gekennzeichnet ist, ist offensichtlich«, sagt er. Wie taumelnde Boxer, die sich aneinander klammern, halten sich SPD und CDU also weiter im Ring – das sobald wie möglich der finale Gong erklingt, ist indes vor allem den geflüchteten Menschen in der Hauptstadt zu wünschen, die die Hauptleidtragenden des koalitionären Dauerstreits sind.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.