Hinter den Fassaden warten die Inseln
Ein alternativer Stadtrundgang durch das krisengeplagte Porto
Gleich ist es soweit. Gui Castro Felga kramt, wie so häufig in den vergangenen zwei Stunden, ihr Smartphone aus der Tasche. Ein kurzer Blick aufs Display, und ihr fahriger Gesichtsausdruck entspannt sich. »Nur noch fünf Minuten, dann haben wir endlich eine linke Regierung«, freut sich die Aktivistin, während sie ihren rechten Arm mit zur Faust geballter Hand nach oben reckt. António Costa steht in diesem Moment unmittelbar vor seiner Vereidigung als neuer Ministerpräsident Portugals. Fast zwei Monate nach der Parlamentswahl hat es der Politiker der Sozialistischen Partei geschafft, die zersplitterte Linke in dem südeuropäischen Land zu vereinen. Der linksalternative Bloco de Esquerda (BE) wird die Minderheitsregierung des neuen Premiers ebenso unterstützen wie die grün-kommunistische CDU.
Als Costa in der Hauptstadt Lissabon nachmittags sein Amt antritt, sitzt Gui rund 300 Kilometer nördlich in dem alternativen Kulturzentrum »Maus Hábitos« inmitten der Hafenstadt Porto. Gerade zeigt die Architektin politisch interessierten Touristen ausgewählte Stellen der 237 000 Einwohner zählenden Stadt, die in offiziellen Stadtplänen nicht verzeichnet sind. Ihre neunköpfige Gruppe hat die lebhafte und eloquente Gui bereits zu einigen erlesenen Anwesen geleitet, die den Wohnungsmarkt systematisch verteuern. Hier in der Innenstadt, unweit der Shoppingmeile »Rua de Santa Catarina«, fällt es im geschäftigen Treiben kaum auf, aber die Sparpolitik macht Portugal schwer zu schaffen.
»Ich werde euch nachher zeigen, wie sehr die Menschen hier leiden«, kündigt Gui an, während die meisten aus der Touristengruppe sich mit Sandwiches und Softdrinks stärken. Hohe Arbeitslosigkeit, Wohnungsnot, Mangelernährung, Lohn- und Rentenkürzungen - wie überall in Europa sind es auch hier fast ausschließlich die weniger gut Betuchten, auf deren Schultern die Folgen der durch die Eliten verursachten Krise abgeladen werden. Woher kommt nach den europaweit ernüchternden Erfahrungen mit sozialdemokratisch geführten Regierungen nun Guis Zuversicht, dass eine Linksregierung die Austeritätspolitik in Portugal dauerhaft beenden kann? Sie zieht die Augenbrauen hoch und stützt ihre Stirn in die Hand. »Es bleibt uns kaum eine andere Wahl, als es auf der parlamentarischen Ebene zu versuchen«, seufzt sie. Zu sehr hätten die außerparlamentarischen Kämpfe der vergangenen Jahre die portugiesische Linke ausgezehrt.
Seit 1999 engagiert sich Gui im BE. Schon während ihres Studiums ist sie in die Studentengewerkschaft eingetreten und gründete eine Gruppe von Architektinnen und Architekten, die sich gegen die schlechten Arbeitsverhältnisse ihres Berufsstandes wehrte. Statt sich darauf zu beschränken, in Lesekreisen die Wertform zu diskutieren, legt sie Wert darauf, immer gemeinsam mit den Betroffenen für Verbesserungen ihrer Lebenslage einzutreten. »Derzeit bin ich in verschiedenen sozialen Zentren aktiv und versuche dort, den Widerstand gegen Privatisierungen und Vertreibungen zu organisieren«, sagt sie, während sie sich in einem Kiosk mit Mineralwasser für den zweiten Teil der Führung eindeckt. Sie betrachtet ihre Art des Aktivismus als Basisarbeit, wozu etwa der Betrieb eines Selbstversorgergartens, Begegnungsorte im Innenstadtbereich oder Tauschbörsen gehören.
Ihre alternativen Stadtrundgänge, die sie gemeinsam mit zwei Kollegen durchführt, firmieren unter dem Titel »Worst Tours« (Schlimmste Touren) - ein sarkastisch gemeinter Slogan, der darauf hinweist, dass dieses Programm nicht die Ansichtskarten zierenden Sehenswürdigkeiten abarbeitet, sondern einen Blick hinter die Fassaden gewährt und marginalisierte Seiten der vordergründig herausgeputzten Stadt offenbart. Vor beinahe jedem der wenigen verfallenen und verlassenen Häuser im Stadtzentrum ist ein bewaffneter Polizist postiert. An einem dieser Gebäude bleibt die Gruppe stehen. Gui erklärt unter argwöhnischen Blicken des offenbar der englischen Sprache mächtigen Schutzmanns, dass Hausbesetzungen in Porto massiv bekämpft werden. Darum wende die linke Bewegung in Portugal dieses eigentlich bewährte Mittel des Protests derzeit kaum an.
Nachdem sich der Tross wieder in Bewegung gesetzt hat, schreitet Gui mit zwei jungen Rucksacktouristen aus Deutschland angeregt über die Wirksamkeit von Hausbesetzungen debattierend voran. Am Horizont beginnt es zu dämmern. Die energiegeladene Aktivistin erhöht ihr Tempo und übersieht dabei, dass sie einen Teil ihrer Gruppe abzuhängen droht. Porto ist eine hügelige Stadt, in der es ständig bergauf und bergab geht. Und die Schönheit des Vorabends verleitet so manchen dazu, die Kamera zu zücken. Als sich der strahlende Sonnenschein allmählich verabschiedet, fällt das Licht besonders auf jene bunt gekachelten Häuserfronten, die für Gui nichts als »Bourgeois-Buden« sind und die immer seltener auftauchen, je weiter sich die Gruppe dem Stadtrand nähert.
Warum es der Tourguide so eilig hat: Die wichtigste Station der Führung wartet. Vor dem Eingang einer schmalen Gasse ist das Ziel erreicht. »Im 19. Jahrhundert«, sagt Gui, »zogen die Arbeiter von Porto in Baracken, die sich unsichtbar für den flüchtigen Besucher in den Hinterhöfen befanden. Damals wurden die Leute auf engstem Raum unter schlechten hygienischen Bedingungen zusammengepfercht.« Ihre Kunstpause lässt erahnen, welche Pointe sie präsentieren wird. »Die Bedingungen sind heute zum Glück nicht mehr so schlecht«, fährt sie fort. Es gebe aber noch immer solche Wohnungen. Sogar ziemlich viele: Acht Prozent der Bevölkerung in Porto leben demnach in diesen Baracken, die Gui konsequent »Islands« (Inseln) nennt.
Tatsächlich mutet die Gasse mit den vielen kleinen Behausungen an wie ein kleines Dorf mitten in der großen Stadt. Vor einer der Türen spielen Kinder Fußball, eine ältere Frau wäscht Textilien in einer Holzwanne mit einem Wäschestampfer, und ein Mann mittleren Alters begrüßt Gui per Handschlag. Er stellt sich als Ricardo vor, und er will gleich etwas klarstellen: »Wir sind hier nicht nur die Opfer, die im Elend leben«, übersetzt Gui, die ihn offenbar ermutigt, von seinem Alltag zu berichten. Er sei seit vier Jahren arbeitslos und besuche seitdem regelmäßig ein selbstverwaltetes soziales Zentrum, in dem er sich mit anderen Menschen in seiner Situation austausche. Seiner Familie gehe es gut, auch wenn es wegen der Geldknappheit oft an elementaren Dingen fehle.
Dass sich hier in den meisten Teilnehmern der Führung eine Mischung aus Beklemmung und Wohlergehen bemerkbar macht, überrascht Gui nicht: »Das Leben auf dieser ›Insel‹ bringt einen starken sozialen Zusammenhalt mit sich, der den Menschen viel Kraft gibt.« Viele Arbeitslose erhalten keinerlei staatliche Unterstützung, da sei es wichtig, sich im Alltag immer wieder gegenseitig zu helfen, Lebensmittel zu teilen, Kleidung zu tauschen oder einfach nur als Gesprächspartner bereit zu stehen. Zugleich aber beobachte sie bekannte dörfliche Erscheinungsformen: »Wenn beispielsweise jemand homosexuell ist, verbreitet sich das schnell, oft wird derjenige dann ausgegrenzt.«
Gui geht es darum, »das Leben in Porto in seiner Widersprüchlichkeit aufzuzeigen«. Darum verwahrt sie sich auch gegen den Vorwurf, mit ihren Führungen einen Elendstourismus für wohlhabende Mitteleuropäer zu betreiben. »Die politisch Verantwortlichen«, sagt sie, »versuchen alles, damit die Armut dieses Landes für niemanden sichtbar wird. Wir bringen politisch bewusste Menschen mit anderen Angehörigen der Arbeiterklasse in Kontakt und zeigen, wie wichtig der Widerstand ist.« Sie arbeite in dieser nebenberuflichen Tätigkeit daran, dass die klassischen Lohnarbeiter und die sozialen Bewegungen sich vereinen.
»Es wirkt vielleicht wie ein Randaspekt«, sagt Gui auf dem Weg zurück ins Stadtzentrum, »aber fast alle Graffiti, die ihr in der Stadt seht, sind keine drei Jahre alt.« Jegliche »Street Art« sei entfernt worden, renitente Künstler mussten sich Refugien suchen. Eines davon präsentiert Gui, um zu demonstrieren, wie die Krise auch eine Organisation von unten erfordert. In einem Einkaufszentrum, das nie eröffnet wurde, haben Hobby-Musiker ihre Proberäume eingerichtet. Sie nennen es in Anlehnung an das pompöse Konzerthaus am »Rotunda da Boavista« das »alternative Casa da Musica«.
Im Lärm der Drums und E-Gitarren gesteht Gui doch noch zu, dass durch Realpolitik keine grundlegenden Veränderungen möglich sind. Dennoch: Die Bevölkerung setze große Hoffnungen in vermeintlich kleine Projekte wie die Anhebung des seit den Troika-Streichungen bei nur 505 Euro liegenden Mindestlohns, Entlastungen bei der Sozialversicherung für die abhängig Beschäftigten, eine bessere Gesundheitsversorgung und höhere Renten. »Das«, so Gui, »möchte ich unbedingt unterstützen. Politik ist immer eine Frage von Macht- und Klassenkämpfen. Und wir müssen für jede Verbesserung zugunsten der arbeitenden Klasse eintreten.«
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.