Polen: Rechtsregime entmachtet Verfassungsgericht
PiS-Mehrheit nach Abstimmung im Parlament im Siegestaumel / Opposition: Das ist ein schleichender Staatsstreich / Frühere Präsident Wales fordert Neuwahlen
Berlin. Trotz heftiger Proteste und Kritik aus dem In- und Ausland hat das polnische Parlament für die umstrittene Reform des Verfassungsgerichts votiert: 235 Abgeordnete stimmten am Dienstagabend für den Gesetzentwurf der neuen rechtskonservativen Regierung, 181 stimmten dagegen und vier enthielten sich. Die Opposition hält das Gesetz für verfassungswidrig und für einen Versuch, das Gericht in seiner Arbeitsfähigkeit zu beschneiden und zu »zerstören«.
Ex-Minister Andrzej Halicki von der liberalen Bürgerplattform (PO) sagte: »Heute ist mit bloßem Auge zu erkennen, dass wir es mit einem schleichenden Staatsstreich zu tun haben.« Die Partei kündigte noch am Abend an, Verfassungsklage zu erheben. Anne Brasseur, die Präsidentin der Parlamentarischen Versammlung des Europarats, warnte die polnischen Gesetzgeber vor der Abstimmung vergeblich vor übereilten Schritten, die »weitreichende Einschränkungen der Justizgewalt« zur Folge hätten.
Nach der dritten und abschließenden Lesung im Sejm klatschten die Abgeordneten des Regierungslagers Beifall und riefen im Siegestaumel »Demokratie!«, wie die Agentur PAP berichtete. Zuvor hatten ihnen Abgeordnete der Opposition zugerufen: »Ihr zerstört den polnischen Staat und das Verfassungsgericht!« Krzysztof Mieszkowski von der neuen liberalen Oppositionspartei Nowoczesnej sagte in der Aussprache: »Wir stehen im Kampf um die Werte«.
Während der fast elfstündigen Marathonsitzung kam es zu teils heftigem Streit. Der PiS-Vorsitzende und Ex-Regierungschef Jaroslaw Kaczynski habe sich »vom Dr. Jekyll zum Mr. Hyde verwandelt«, kritisierte ein Politiker. Für Empörung und Erheiterung sorgte die PiS-Vertreterin Krystyna Pawlowicz, die einem Kollegen der liberalen Bürgerplattform vor laufenden Kameras sagte: »So schmeckt das Leben in der Opposition - miam, miam, miam.«
Der Oberste Gerichtshof Polens warnte in der vergangenen Woche vor einer Lähmung des Gerichts. Die Neuregelung widerspreche »den Funktionsweisen eines Verfassungsgerichts in einem demokratischen Rechtsstaat« und drohe dessen Arbeit »zu behindern oder gar zu verhindern«. Auch in der polnischen Bevölkerung stößt die Politik der PiS mittlerweile auf starken Widerstand. Am Samstag gingen das zweite Wochenende in Folge zehntausende Bürger gegen die neue Regierung auf die Straße.
Angesichts der Abstimmung forderte der frühere Staatspräsident Lech Walesa Neuwahlen. Im Radiosender Zet warf er der nationallonservativen Regierung vor, gegen Freiheit und Demokratie vorzugehen und Polen in der Welt lächerlich zu machen. Schon zuvor hatte er angesichts des brachialen Vorgehens der PiS-Regierung vor einem drohenden »Bürgerkrieg« gewarnt.
Laut der Neuregelung soll für alle Entscheidungen des Verfassungsgerichts künftig eine Zweidrittelmehrheit notwendig sein statt wie bisher eine einfache Mehrheit. Zudem müssen künftig mindestens 13 der 15 Verfassungsrichter anwesend sein, um ein Urteil fällen zu können - bisher reichten neun Richter. Die nationalkonservative Partei für Recht und Gerechtigkeit (PiS) von Ex-Regierungschef Jaroslaw Kaczynski hatte bei der Parlamentswahl im Oktober eine absolute Mehrheit der Sitze gewonnen. Seit ihrem Amtsantritt nutzt die Regierung von Ministerpräsidentin Beata Szydlo ihre neugewonnene Macht, um kritische Medien und das Verfassungsgericht unter ihre Kontrolle zu bringen.
Bereits kurz nach ihrem Wahlsieg hatte die PiS auf der Basis eines von ihr verabschiedeten Gesetzes fünf neue Verfassungsrichter bestimmt und damit eine Welle der Kritik von Opposition, Medien und ausländischen Politikern ausgelöst. Das Verfassungsgericht stufte das Gesetz später als verfassungswidrig ein. Der PiS-nahe Präsident Andrzej Duda hatte die fünf Verfassungsrichter allerdings bereits vereidigt. Agenturen/nd
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