»Mensch sein heißt Utopien haben«

Am Morgen noch gedachter Nicht-Ort, am Mittag bereits Science-Fiction - und am Abend endlich Wirklichkeit: eine Weihnachtsausgabe zur Utopie

  • Tom Strohschneider
  • Lesedauer: 6 Min.

Vom Theologen Paul Tillich stammt der schöne Satz: »Mensch sein heißt Utopien haben.« Thornton Wilder fand, es sei heutzutage »kaum etwas realistischer als Utopien«. Und der Filmkomiker Jerry Lewis sagte einmal, »manches, das am Morgen noch Utopie gewesen ist, ist zu Mittag bereits Science-Fiction und am Abend schon Wirklichkeit.«

Also alles gut in Utopia? Eher nicht. Und zugleich auch wieder doch. Denn es gehört einerseits zum Wesen der Utopie, dass sie nur dort auftaucht, wo es noch hinreichend Gründe dafür gibt, eine künftige Ordnung zu beschreiben – als erstrebenswerte Alternative zum bestehenden Jammertal, wenigstens aber als gedanklicher Fluchtpunkt. Uns aus dem Elend zu erlösen, müssen wir dann bekanntermaßen noch selber tun.

Andererseits ist die Utopie immer auch als das verstanden worden, was in der Vorstellung leider doch einen Schritt zu weit ausgreift, um realisiert werden zu können. Die Antiutopisten sagen dann: »Immer schön pragmatisch bleiben! Und überhaupt: Wer soll das alles bezahlen?« Und weil das so ist, wirkt die Utopie noch gleich ein bisschen mehr wie eine unerschöpfliche Energie, die Welt trotzdem immer noch besser machen zu wollen, schöner, leichter, friedlicher, angenehmer, solidarischer, effektiver, automatischer ... irgendwann vielleicht ja doch!

1516 schenkte Thomas Morus mit seinem »Utopia« der Welt eine neue Weise der Zukunftsaneignung, die mit dem Aberglauben an die Ankunft irgendeines Himmelsreiches brach. Die politische Utopie feiert im kommenden Jahr ihren 500. Geburtstag. Wir haben deshalb nach den Spuren vergangener Utopien gesucht, wir haben über das Utopische in der DDR, in Afrika und auf dem Mars nachgedacht, darüber, ob Alternativen zum Kapitalismus utopisch sind oder einfach bloß vernünftig. Bei unserer kleinen Reise durch das heutige Utopia entdeckten wir hinter jeder Ecke natürlich auch die kleine Schwester der Utopie – die Dystopie. Und weil die immer den negativen Ausgang der Geschichte zu erzählen weiß, trägt auch sie dazu bei, dass wir daran festhalten: »Mensch sein heißt Utopien haben.«

Oder um es mit den Worten der großartigen Band Dota und die Stadtpiraten zu sagen: »Es gibt Kaufhäuser und Wahlen, und im Wellenbad gibt’s Wellen / Es gibt Arbeitslosenzahlen, und im Stellenmarkt gibt’s Stellen / Es gibt Normen und Tarife und die Charts und die Show / Und Zölle und Patente und Geld gibt’s sowieso / Denn die Welt ist was Gemachtes, und du kriegst deine tägliche Kopie / Die Welt ist was Gemachtes, bis da und dahin aus Notwendigkeit, / und der Rest ist, der Rest ist Utopie.«

Was übrigens nicht so bleiben muss. Es geht voran. Denn Sie wissen ja: Heute ist morgen schon gestern.

Das ist doch utopisch! Eine Sonderausgabe


Neue Utopien? Aber sicher
Der Traum von einer besseren Welt ist auch 500 Jahre nach Thomas Morus’ »Utopia« hochaktuell.

Kampf um den roten Planeten
Warum ein auf dem Mars angesiedelter utopischer Roman von links jetzt gesellschaftlichen Alternativen auf die Sprünge helfen könnte.

Getrocknete Pilze und Ameisen
Ist die Besiedelung des Mars nur etwas für Veganer?

Ohne Jägerzaun gibt’s alles für alle
Angst vor einer Welt ohne Grenzen? Warum? Die Menschheit kann nur darauf hoffen.

Plädoyer für poetisches Denken
Camilla Elle und Júlio do Carmo Gomes über das Bilderverbot und ihre Zeitschrift »Utopie«.

Zu viel versprochen
Warum gescheiterte Utopien besser sind als gar keine.

Kein Ende, nirgends
Über die dunkle Seite der Utopie.

Wer braucht schon Helden?
Was für eine friedfertige Gesellschaft unerlässlich ist.

Für immer Kampfstern
Oder rettet uns Schwejk? Die Welt als militärische Dauerdystopie.

Das vergessene Paradoxon
Technik wird uns nicht aus dem ökologischen Elend erlösen.

Das vergessene Potenzial
Technik allein macht noch keine Befreiung. Aber sie kann uns dabei helfen.

Utopia, USA
Im New Yorker Stadtteil Queens sollte eigentlich der Kapitalismus enden. Doch daraus wurde erst einmal nichts.

Antikapitalistische Wühlarbeit
Der US-amerikanische Soziologe Erik Olin Wright über Realutopien und die Chancen eines demokratischen Sozialismus.

Meer Utopie wagen
Was man heute noch von Piraten lernen kann.

Wahrhaftiger als der Tag
Afrika ist ein Kontinent, der viele sozialistische Utopien kennengelernt hat. Nicht wenige stellten sich im Lauf der Zeit als Dystopien heraus.

Welt ohne Geld
Über Träume von der Revolution und den Revolver auf dem Nachttisch.

Picasso, Papst und Pauperismus
Von Franziskus zu Franziskus: Eine arme Kirche ist keine sinnvolle Utopie.

Die befohlene Perspektive
Die Schriftsteller Angela und Karlheinz Steinmüller über Visionen in der DDR-Science-Fiction und in der Zukunftsforschung.

Am Abgrund der Zeit
Wie feministische Utopien ihre Orte fanden.

Sexwunderland oder Roboterkommunismus?
Unsere Volontäre auf der Suche nach einer Utopie der Liebe.

… und das große Utopie-Spiel. Zum Selberwürfeln!

Wir-schenken-uns-nichts
Unsere Weihnachtsaktion bringt nicht nur Lesefreude, sondern auch Wärme und Festlichkeit ins Haus. Zum dreimonatigen Probeabo gibt es ein Paar linke Socken und eine Flasche prickelnden Sekko Soziale – perfekt für eine entspannte Winterzeit. Ein Geschenk, das informiert, wärmt und das Aussteiger-Programm von EXIT-Deutschland unterstützt. Jetzt ein Wir-schenken-uns-nichts-Geschenk bestellen.

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.