Eisbärenopfer am Stützpunkt Arktis
Russland kehrt in den von der Sowjetarmee verlassenen Polarkreis zurück / Wettlauf mit den USA
TV-Kanäle hatten ihre Zuschauer gewarnt, bevor sie das Amateurvideo sendeten: Nichts für Kinder und Nervenschwache. In der Tat: Blut schießt aus dem Maul einer Eisbärin, die sich rasend vor Schmerz im Schnee wälzt. Ihr hingeworfene Küchenabfälle waren mit Sprengstoff durchmischt. Verbreitet wurde das Video vom Täter - dem Koch eines Unternehmens, das auf der Wrangelinsel in der russischen Arktis einen Stützpunkt für die Nordmeerflotte baut. Umweltminister Sergej Demski erstattete Anzeige, Wladimir Krewer von der russischen Sektion der Naturschutzorganisation World Wide Fund For Nature fürchtet jedoch, der Täter werde mit einer sehr milden Strafe davonkommen. Gerichte würden sich in Fällen wie diesem schwer tun.
Das ist zu befürchten, denn es geht ums Militär. Dessen Präsenz in der Arktis gehört wieder zu den absoluten Prioritäten russischer Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Der Vizeverteidigungsminister Arkadi Bachin erklärte: »Wir sind in die Arktis gekommen oder vielmehr zurückgekehrt - und zwar für immer und ewig.« Der Drei-Sterne-General war an Bord des Schiffes, das im Oktober 2013 und damit kurz vor Beginn der Polarnacht neben schwerer Technik auch die ersten Bautrupps auf Kotelny absetzte. Sie sollten auf der südlichsten der Neusibirischen Inseln den nach dem Ende der Sowjetunion 1991 aufgegebenen Militärflugplatz Temp wieder in Betrieb nehmen.
Seit Anfang 2015 blinken die blauen Positionslichter wieder, die die Start- und Landebahn flankieren. Die ersten Soldaten bezogen eine Wohnsiedlung mit einer Fläche von über 14 000 Quadratmetern, die dem poetischen Namen Nordklee führt. Beim Bau kamen innovative, energieeffiziente Technologien und neue, wärmedämmende Baustoffe zum Einsatz, alle Gebäude sind durch Übergänge miteinander verbunden. Das schützt nicht nur die Soldaten vor dem Extremklima, es hilft auch Energie zu sparen.
250 russische Soldaten sind ständig auf Kotelny stationiert. Südlich der Inselgruppe führt die Nordostpassage vorbei: der kürzeste Weg von Nordeuropa nach Asien und zunehmend eisfrei. Wagten sich 2010 noch ganze vier Handelsschiffe in die Gewässer vor Sibirien, waren es 2014 bereits 372. Sie schaffen inzwischen die rund 6500 Kilometer statt in 48 in ganzen 35 Tagen. 2021 sollen über den nordöstlichen Seeweg mehr als 15 Millionen Tonnen Fracht transportiert werden.
Zwar freut Moskau sich über die anfallenden Durchfahrtsgebühren. Doch auch die Verteilungskämpfe um die Ressourcen im Eismeer gewinnen an Wucht. Dort lagern riesige Öl- und Gasvorkommen. Die meisten jenseits der 200-Meilen-Wirtschaftszone, die Russland in Richtung Norden verschieben will. Bisher beigebrachte Beweise, wonach zwei Unterseegebirge in Polnähe Fortsetzung der sibirischen Landmasse sind, schmetterte die UN-Seerechtskommission jedoch als unzureichend ab. Um Ansprüchen auf die Schätze im Eismeer Nachdruck zu verleihen, will Moskau in der Arktis erneut jene militärische Präsenz herstellen, wie sie die Sowjetunion besaß.
Seit der Landung auf Kotelny vor gut zwei Jahren wurden daher schon 1450 Objekte der militärischen Infrastruktur hinter dem Polarkreis gebaut. In Kürze wird sogar der weltweit nördlichste Flugplatz wieder in Betrieb genommen. Er liegt auf der zu Franz-Josef-Land gehörenden Graham-Bell-Insel, über die der 80. Breitengrad verläuft. Zu Sowjetzeiten waren dort strategische Langstreckenbomber mit Kernsprengköpfen stationiert. Seit den letzten Manövern Ende der 80er Jahre war er verwaist.
Fast bezugsfertig ist ein Wohnkomplex für die Nordmeerflotte auf der ebenfalls zu Franz-Josef-Land gehörenden Insel Alexandraland. 150 Menschen könnten dort im Ernstfall anderthalb Jahre ohne Nachschub an Energie und Proviant ausharren. Die Anlage sei ein geschlossener Zyklus und »weltweit einmaliges Bauwerk«, lobte der Vizeverteidigungsminister Dmitri Bulgakow sich und die Seinen.
Bis 2020 ist die Fertigstellung von sechs weiteren Garnisonen in der Arktis geplant. Darunter auf Nowaja Semlja, wo die Sowjetunion einst Kernwaffen testete. Bei Kap Schmidt auf der Tschuktschen-Halbinsel und auf der ihr vorgelagerten Wrangel᠆insel sollen Scharfschützen und Spezialeinheiten einer künftigen Arktis-Armee für den Nahkampf im Packeis gedrillt werden. Derzeit üben sie noch auf der Kola-Halbinsel an den Küsten der Barentssee.
Die rund 7600 Quadratkilometer große Wrangelinsel ist noch immer fast ganzjährig von Schnee bedeckt und wegen ihres Packeisgürtels schwer erreichbar. Auch liegt sie nur knapp 1000 Kilometer von der Beringstraße entfernt, die Russland vom US-Bundesstaat Alaska trennt. Washington aber ist Moskaus Erzrivale beim Wettlauf zu den Schätzen im Eismeer.
Ärger droht, nicht nur wegen des »Unfalls« mit der Eisbärin, auch mit der UNESCO. Die hatte die Wrangelinsel 2004 zum Weltnaturerbe erklärt. Ein Status, der sich mit Schießzeug so wenig verträgt wie mit Komponenten eines Radarsystems, das die gesamte russische Arktis überwacht: Luftraum, Landmasse und Gewässer, einschließlich des U-Boot-Verkehrs. Es soll spätestens 2025 in Dienst gehen, Teile sollen schon 2016 einen ersten Praxistest durchlaufen. Allein die Entwicklungskosten veranschlagt der Hersteller, der russische Staatskonzern »Funktechnik und Informationssysteme« mit umgerechnet etwa 85 Millionen Euro.
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