Der Riss in der Latzhose
Ulrich Greiner: »Das Leben und die Dinge« - Erinnerungen eines Literaturkritikers
Die Dinge des Lebens. Sind sie groß, werden sie mit den Jahren kleiner? Sprengen sie das Erinnerungsvermögen, passen sie in eine Schublade? Der Literaturkritiker Ulrich Greiner hat »Das Leben und die Dinge«, genauer: sein Leben und Dinge dieses Lebens, zu einem »alphabetischen Roman« gefügt. Entstanden ist eine Feuilleton-Fundgrube von Agfa bis Zimmer, von Boot bis Tonbandgerät, von Computer bis Strand. Greiner - von 1986 bis 1995 Feuilletonchef der »Zeit«, vor Monaten siebzig geworden - fügte Texte zu Begriffen wie Flugzeug oder Handschuhe oder Sekretariat zu einem kurzweiligen autobiografischen Fragmentarium. Bewusste Beiläufigkeit. Ambitionierte Alltäglichkeit. Ein Kramen in Fächern bürgerlicher Einrichtungsart. In Grundstück und Geist, in Weltanschauungen ohne ideologische Pflichtsätze. Das gibt diesen Einzelteil-Erinnerungen etwas leuchtend und lässig Unforciertes. Angenehm.
Und er gibt Einblick in die Erfahrungen seiner Profession. Dem »Zeit«-Chefredakteur Giovanni di Lorenzo etwa bescheinigt er eine »wohl kalkulierte Lobespolitik«: Denn der erwähne bei Sitzungen grundsätzlich keine Rezension, und sei sie noch so gut geschrieben. Je kunstferner, desto besser. Das Feuilleton (»ehemals war es der Ort des guten Schreibens«) sei nunmehr auf jenem Prüfstand, auf dem hauptsächlich Schnelligkeit und »die überhöhende Erläuterung des je Aktuellen« zählen. Am besten, also heutzutage für Redaktionsleitungen lobenswert: das Feuilleton als Fortsetzung der leitartiklerischen Betriebsamkeit mit den gleichen sprachlich bescheidenen Mitteln. Der Pensionär Greiner lächelt darüber befreit, wie man nur aus bekömmlicher Ferne lächeln kann. Mit »staunender Bewunderung« blickt er auf die jungen Enthusiasten des Online-Journalismus, sieht freilich, wie das Hurtige und Grenzenlose auch dort alle stilistische Eleganz, allen Formwillen mählich aufweicht, und wie anonym tobende Communities »Plattitüden und Ressentiments« verbreiten, ganz im Stile des »deutschen Stammtisches«. Er schätzt sich glücklich, »die großen Zeiten des Papierjournalismus noch erlebt« zu haben.
Für posenfreie Eleganz habe ich Greiners Stil stets bewundert, einer der Wenigen, denen Botho Strauß ein Interview gab, ein kluger Streiter für Peter Handke. Aber dann nannte er Christa Wolf eine »Staatsdichterin« der DDR und wurde für mich mit einem einzigen Wort Mitglied jener Massenorganisation empörender Arroganz. Darüber nichts in diesem Buch, keine rüttelnde Selbstbefragung, keine wirkliche Zweifelstiefe, keine wirkliche Kern-Erschütterung. Der Ästhet ein wenig als Amtmann. Banalität als Balsam. Auf alles im Leben eine Sicht, die beeindruckend intelligent und gewandt ist, die aber (außer einigen Redaktionsintrigen!, ach, wie bewegend) nichts Aufgerissenes, Verzweifeltes, Ideendramatisches offenbart. Wozu auch? Man stieg auf, stieg um. Nie ab, nie aus. Beneidenswerte Wohltemperiertheit. Innerbetriebliche Balance. Vom Leid an irgend einer Welt: keine direkte Rede. Geradezu peinlich, wenn er seinen Widerwillen gegenüber Frank Schirrmacher über dessen laschen Händedruck erklärt. »... und wann immer wir uns die Hand zum Gruß reichten, war ich irritiert, beim Nachdenken sogar angewidert von der Schlaffheit seiner kleinen, irgendwie formlosen Hände. Ich wusste, dass er ein Machtmensch von äußerster Härte sein konnte, und habe daraus gelernt, den Händedruck sozusagen umgekehrt zu lesen.«
Aber noch einmal. Dies ist auch ein herzensgut bescheidenes, uneitles, gedankenfarbiges Büchlein. Dass die Bibel »das schwierigste und großartigste« literarische Werk ist, hat Greiner erst in späten Jahren begriffen. Und gibt damit ein schönes Beispiel für die Geistwonne des Alters. Er denkt auch über die Spekulation nach, selbst Pflanzen könnten Empfindungen haben, »falls das stimmt, müsste es für Vegetarier und gar für Veganer ein ernstes Problem bedeuten«. Er befragt psychoforschend seine Freude am Heroischen in der Kunst und sein »lustvolles Einverständnis« mit filmischen Untergängen. Im Kino Enthemmung bis hin zu Tränen und »finstere Begeisterung« bei Showdowns - als »Genugtuung für jene Niederlagen, die es in meinem Leben natürlich gegeben hat«. Die aber, wie gesagt, kaum auszumachen sind; es sei denn, er meint so etwas wie den Sturz auf der Skipiste, der ihm die Latzhose der Länge nach aufriss - weshalb er halb entblößt zur Pension zurückkehren musste: »... erbärmlich, seitdem bin ich nicht mehr Ski gefahren.« Nennt man das etwa schon Tragik?
Schön geradezu die Zeilen des Gartenfreundes Greiner über den Beruf des Gärtners. Der ist ein »Willkürherrscher, der pflanzt und schneidet, vernichtet und begrünt.« Unkraut und Wetter und Insekten erklären ihm den Krieg - der Gärtner aber kämpft und kämpft, »bis der Garten seinem Ideal nahegekommen ist. Gärtner sind zumeist keine netten Menschen.« Gärtner. Jeder könnte jetzt andere Klein- und Großimperatoren nennen. Der Gärtner will, dass Norm Schönheit genannt wird. Im übertragenen Sinne: Wer mein Bewusstsein dirigieren will, der will mich dressieren, auch wenn er mich zum besseren Menschen machen will.
Einmal schreibt Greiner: »Etwas zu lesen, ohne es gänzlich zu verstehen, erscheint mir als die entscheidende Initiation ins Reich der Literatur.« Nicht nur ins Reich der Literatur. Etwas zu erleben, ohne es gänzlich zu verstehen, ist die entscheidende Initiation in jedes Dasein. Und zwar täglich.
Ulrich Greiner: Das Leben und die Dinge. Alphabetischer Roman. Jung und Jung Verlag, Salzburg und Wien. 216 S., geb., 19,90 Euro.
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