»Die Hoffnung auf Frieden ist weg«
Berliner Ko-Vorsitzende der türkisch-kurdischen Linkspartei HDP befürchtet eine Radikalisierung der Jugendlichen
Unbekannte haben in den drei Monaten seit der Eröffnung mehrere Anschläge auf das Büro der türkisch-kurdischen Linkspartei HDP (Demokratische Partei der Völker) in Kreuzberg verübt. Verlagert sich der Konflikt in der Türkei auch nach Berlin?
Definitiv. Das hat schon angefangen nach den ersten Wahlen im Juni vergangenen Jahres. Da war für uns klar, jetzt ist es ein Krieg. Ein Bürgerkrieg, in diesem Sinne. Damals haben wir gesagt, dieser Krieg wird sich auf Deutschland übertragen. Nicht nur auf Berlin, sondern auf weitere Städte wie Hamburg und Düsseldorf, also dort, wo viele Kurden leben.
Wen vermuten Sie hinter den Anschlägen?
Selbstverständlich die türkischen Faschisten, die Grauen Wölfe, eventuell Erdogans Anhänger. Wenn es um Rassismus geht, haben sie etwas gemeinsam: Den Hass gegen Kurden. Da schauen sie nicht auf die Ideologie.
Wie geht die HDP mit der Bedrohung um?
Wir haben Gott sei Dank tolle Nachbarn. Die haben nach den Anschlägen zu uns gehalten, sie haben sogar Wache gehalten. Aber trotzdem fühlt man sich verantwortlich für die Menschen, die hier leben und wohnen. Wir sind hier bekannt als HDP-Angehörige. Bis jetzt habe ich persönlich nur ein paar Droh-E-Mails bekommen, Beschimpfungen. Das gehört zum Alltag mittlerweile. Vor allem auf Demonstrationen gibt es aber eine Gefahr, oder wenn die Jugendlichen alleine unterwegs sind. Ich rechne mit Gewaltangriffen. Das könnte auch uns betreffen. Jeder von uns ist voll mit Emotionen, mit Ängsten. Es könnte hier wirklich eskalieren - was man nicht hofft.
Was bedeutet für Sie die Eskalation des Konfliktes in den kurdischen Gebieten?
Es ist wirklich schwer, die Gefühle mit Worten zu beschreiben. Wir wissen, jeden Tag sterben Frauen und Kinder. Nachts werden Wohnungen von der Polizei gestürmt. Die Hoffnung auf Frieden ist weg. Was kann noch schlimmer sein, als wenn man jeden Tag Todesnachrichten bekommt? Es sind viele Verwandte von uns dort. Auch meine, auch von meinen Genossen. Jeden Tag rechnen wir mit einer Todesmitteilung. Wenn ein Anruf kommt, hat man wirklich Angst, ans Telefon zu gehen.
Welche Möglichkeiten sehen Sie, von Berlin aus zu intervenieren und Aufmerksamkeit zu schaffen?
Wir haben uns vorgenommen, etliche Politiker zu besuchen mit dem Ziel, eine Delegation nach Kurdistan zu schicken. Wir wollen die Leute motivieren und aktivieren, um gemeinsam etwas machen zu können. Die Linkspartei und auch die Grünen haben während der Wahlperiode Delegationen geschickt, die in Gefahrengebieten waren. Wir hoffen natürlich, dass das weitergeht. Gerade jetzt.
Bei den ersten Wahlen in der Türkei im Sommer stimmten 20 Prozent der in Berlin lebenden Wahlberechtigten für die HDP. Bei der zweiten Wahl konnten im Gegensatz zur Türkei sogar Stimmen dazugewonnen werden. Wie kam es dazu?
In Kurdistan haben die Menschen aufgrund des Militärdrucks gespürt, dass es mit einem erneuen Wahlerfolg nicht klappen wird. Auch in Berlin hatten die Wählerinnen und Wähler ihre Zweifel, aufgrund der anderen Verhältnisse war man aber optimistischer.
Gibt es unter den Berliner Kurden Diskussionen um die Formen des Aktivismus, die man wählt?
Mit den Jugendlichen gibt es diese Diskussionen. Ich muss ehrlich sagen, ich bin stolz auf unsere Jugendlichen. Sie haben wirklich Ruhe bewahrt. Wir haben versucht, sie zu beschäftigen, mit Flyer verteilen oder so etwas. Wir haben sogar von der Polizei gehört: »Wir bewundern eure Jugendlichen, dass sie Ruhe bewahren.« Wenn Sie mich jetzt fragen, ob das immer noch so ist, ich müsste antworten: Das weiß ich nicht.
Werden junge Kurden in die Militanz gedrängt durch die Ereignisse in der Türkei?
Es ist zu befürchten. Man darf nicht vergessen - ich rede immer noch von Verwandten, Familien - man hat alles versucht, um den Konflikt zu entschärfen. Dieses Mal hatten wir geglaubt, dass es friedlich ausgeht. Es waren viele Hoffnungen, auch für die Guerilla war es eine Hoffnung. Wenn man Hoffnungen verliert, könnte das passieren.
Es gibt in Berlin wie auch im Rest Deutschlands eine staatliche Repression gegen kurdische Organisationen und Aktivisten. Wie erleben Sie die Situation?
Deutschland ist das einzige Land, dass das PKK-Verbot immer noch aufrecht erhält. Ich wünsche mir natürlich, dass das Verbot aufgehoben wird. Dann würden wir sehr gestärkt sein, nicht nur die PKK, sondern alle Kurden. Dass die PKK illegal ist, schafft ja noch mehr Unruhe. Allein bei den Demos. Abdullah-Öcalan-Flaggen betreffend gibt es zum Beispiel die Auflage: Seid ihr 50 Leute, dürft ihr eine Flagge tragen, seid ihr 30, dürft ihr nicht. Das ist erniedrigend. Wenn das aufgehoben wird, wird sich vieles erleichtern - für uns, für die Behörden, für alle.
Es gab in Berlin zuletzt mehrere Verfahren gegen sogenannte Hassprediger, fast 700 Salafisten sollen mittlerweile in der Hauptstadt leben. Welche Gefahr geht von der islamistischen Szene aus?
Neukölln, Wedding, da sitzen die Moscheen und Vereine, das weiß man auch. Das ist bei der Polizei auch bekannt. Bei unseren Demos sprechen wir vorher ab, welche Moschee im Moment gefährlich ist, wenn wir da vorbei laufen. Es gibt viele jesidische Genossinnen, die vor Angst ihre jesidischen Kettenanhänger abnehmen, wenn sie in Neukölln abends unterwegs sind. Wir wissen, dass die Salafisten hier vor Ort sind, sie präsentieren sich ja auch. Da werden Jugendliche angesprochen und in die Vereine gezogen - damit fängt es an. Natürlich machen sich die Menschen Gedanken, sorgen sich.
Zeitgleich gab es auch in Berlin Brandanschläge auf Flüchtlingsunterkünfte sowie regelmäßige rechte Demonstrationen. Nehmen Sie eine wachsende Bedrohung durch deutsche extreme Rechte wahr?
Selbstverständlich. Ich sehe da keinen Unterschied. Nationalismus ist Nationalismus, ob es um Deutsche, Türken oder auch Kurden geht.
Wie kann die türkische, kurdische und deutsche Linke besser zusammenarbeiten, um sich den gemeinsamen Gegnern zu stellen?
Wir arbeiten bereits mit antifaschistischen und anderen linken Gruppen zusammen. Es hat ein bisschen spät angefangen. Kontakte waren da - aber ich denke, dieses Empathiegefühl hat gefehlt. Jeder war für sich. Die Antifa war für sich, die Linkspartei war für sich, wir Kurden waren für uns, die türkischen Sozialisten waren für sich.
Die Wahlperiode in der Türkei hat uns stark zusammengebracht. Ich habe das jedenfalls so wahrgenommen. Auch die Jugendlichen haben mehr Kontakt miteinander. Da gibt es so ein Gefühl: meine Genossen sind da, ich bin nicht allein. Den ersten Schritt haben wir schon gewagt und auch gute Erfolge dabei erreicht.
Was wünschen Sie sich für das neue Jahr?
Einen Appell an alle. Wenn hier Demonstrationen stattfinden, aufgrund dessen, was in der Türkei passiert, wünsche ich mir, dass die Menschen sensibler reagieren und dass sie daran teilnehmen. Auch die deutschen Genossen. Vor allem in Berlin. Da wünsche ich mir noch ein bisschen mehr Engagement. Natürlich wünsche ich mir auch, dass in meinem Land die Menschen nicht mehr sterben.
nd-Interview: Sebastian Bähr
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