Stand Stonehenge zuerst in Wales?
Wissenschaftler warten mit neuen Theorien zum UNESCO-Weltkulturerbe in Südengland auf
Wissenschaftler melden sich mit neuen Theorien zu Stonehenge in der englischen Grafschaft Wiltshire zu Wort, einem der weltbekanntesten prähistorischen Denkmäler. Kern der jüngsten Hypothese: Die Stein- und Grabenanlage nördlich Salisburys, die seit 1986 zum UNESCO-Weltkulturerbe gehört und jedes Jahr bis zu eine Million Besucher anlockt, könnte ein halbes Jahrtausend vor dem Bau in Südengland Kultstätte in Wales gewesen sein.
Seit langem ist bekannt, dass die Riesensteine, aus denen das Zentrum der Anlage von Stonehenge gestaltet wurde, ursprünglich aus den Preselli-Bergen in Wales kommen. Nun aber haben Archäologen in besagter Region Steine ausgegraben, die denen in Stonehenge in Größe und Gestalt ähneln. Sie rühren von 3400 bis 3200 vor unserer Zeit, während die Blöcke von Stonehenge nach Ansicht des Forscherteams erst rund 500 Jahre später, um 2900 v. Chr., errichtet wurden. Stonehenge-Projektleiter Prof. Michael Parker Pearson vom University College London erklärte jetzt dem »Guardian«: »Nun könnte man annehmen, die Schlepper aus der Jungsteinzeit habe es fast 500 Jahre gekostet, ihre Fuhre bis Stonehenge zu bugsieren. Das ist kaum anzunehmen. Viel wahrscheinlicher ist, dass die Kultsteine anfangs für ein lokales Denkmal in der Nähe der Waliser Steinbrüche genutzt wurden. Es wurde später abgebaut und nach Südengland geschleppt.«
Der urzeitliche Transport von bis zu fünf Tonnen schweren und bis zu sieben Metern hohen Steinen über Strecken von 220 bis 300 Kilometer gehört zu den erstaunlichsten Leistungen unserer Vorfahren. Die Archäologen gehen davon aus, dass Menschen und Ochsen jeden der rund 80 fraglichen Steinblöcke auf Holzschlitten ähnlichen Gefährten und auf Schienengleichen Konstrukten aus Stämmen bewegten. Parker Pearson sagte, Menschen auf Madagaskar und anderswo hätten gleichfalls riesige Steine auf weiten Strecken befördert. Dieser Transport sei stets ein Spektakel gewesen, das Menschen aus großen Entfernungen zusammenführte. »Eine der jüngsten Theorien spricht deshalb auch Stonehenge die Rolle eines Monuments der Vereinigung für Menschen aus vielen Teilen Britanniens zu.«
Immer neue Theorien sind ein wesentlicher Grund, weshalb so viele Gäste Stonehenge besuchen. Denn die Zweckbestimmung der Stätte ist ein fortdauerndes Mysterium. Im Verlaufe von Jahrhunderten mehrfach umgestaltet, galt sie mit ihrem Wall- und Grabenring sowie den Kreisen u. a. als Sonnenheiligtum und Beobachtungsanlage für den Lauf von Sonne und Mond.
Unlängst waren zwei weitere Deutungen unterbreitet worden. Die eine stammte von einem Archäologenteam unter Leitung des erwähnten Prof. Parker Pearson. Sie wähnt sich im Besitz verlässlicher Hinweise, dass Stonehenge als Begräbnistempel für Familien der Oberschicht, also eine Art Promifriedhof diente. Die andere These, beruhend auf Erkenntnissen von Archäologen unter Prof. Tim Darvill von der Uni Bournemouth, sieht Stonehenge nicht als Trauerort, sondern als »Ort für die Lebenden«. Diese Forscher glauben genügend Indizien zu haben, dass es ein Wallfahrtsort vom Schlage des französischen Lourdes war. Nach Stonehenge, so Darvill, seien Lahme und Blinde gekommen, weil sie mit den walisischen Steinen Heil- und Jungbrunnenkräfte verbanden.
Letzte Sicherheit jedoch hat nie bestanden. Das muss wohl auch für die jüngste Deutung gelten, der zufolge das englische Stonehenge gleichsam eine Zweitverwertung seines walisischen Vorläufers sein dürfte. Sicher indes ist: Die Attraktivität der Steine von Stonehenge wächst mit jeder neuen These nochmals.
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