Leben im Todesreich
Vor fünfzig Jahren starb der Schriftsteller Hermann Kasack
Die Frage kam unerwartet. Sie war kaum ausgesprochen, als er schon wusste, wie viele Gewissensqualen ihm die Antwort bereiten würde. Er hatte sich an die Stille, die ihn umgab, längst gewöhnt, an dieses anonyme Leben am Rand der Zeit, und er konnte sich nicht vorstellen, die erzwungene Isolation einzutauschen gegen eine Aufgabe, die ihn wieder sichtbar machte.
Im Frühjahr 1941 war Peter Suhrkamp, der den in Deutschland verbliebenen Teil des S. Fischer Verlages leitete, nach Potsdam gekommen, um Hermann Kasack zu bitten, das Lektorat des Hauses zu übernehmen, den vakanten Platz, der durch den Tod Oskar Loerkes im Februar entstanden war. Die Idee lag nahe. Kasack war ein enger Freund Loerkes gewesen, er hatte 1918 mit einem avantgardistischen Gedichtband debütiert, ein Drama und eine Erzählung publiziert und als Lektor erst bei S. Fischer, dann bei Gustav Kiepenheuer in Potsdam gearbeitet.
Er war ein vielseitiger und durchsetzungsfähiger Mann, einst erster und faszinierter Lektor Brechts und seiner »Hauspostille«, Hörspielautor und Mitarbeiter des Berliner Rundfunks. Noch im Dezember 1932 war dort eines seiner Hörspiele ausgestrahlt worden. Es handelte von der Massenarbeitslosigkeit in den letzten Jahren der Weimarer Republik und wurde für die Wiederholung im März 1933 von Mitarbeitern des Senders mit Teilen einer Hitler-Rede versehen, die das sozialkritische Werk in ein Propagandastück der NS-Politik ummünzte. Kasack hatte protestiert und war von der Leitung noch im März aus dem Rundfunk verbannt worden.
Er zog sich in sein Potsdamer Haus zurück, reiste nun viel, meist nach Italien, schrieb weiterhin Gedichte, die gelegentlich in der »Neuen Rundschau« gedruckt worden, zweimal, 1940 und 1943, auch in schmalen Sammlungen. Im Tagebuch bekundete er am 3. Juli 1933: »Unwichtig ist es, in der Gegenwart zu leben, wichtig nur, diese Gegenwart zu überleben.« Und am 13. November 1938, nachdem in Deutschland die Synagogen brannten: »Nur tiefstes Vergraben in die dichterische Arbeit wird unsereins noch leben lassen.«
Hermann Kasack hat 1941 lange gezögert, ehe er nach weiteren Gesprächen mit Peter Suhrkamp das Lektorat übernahm. Die Aufgabe war unter der Aufsicht und dem Druck der Nazis wegen der jüdischen Vergangenheit des Hauses schwer genug. Die Gestapo schleuste im Herbst 1943 einen Agenten in den Verlag, der nicht erkannt wurde. Ein halbes Jahr später, im April 1944, wurde Suhrkamp verhaftet, wegen Hochverrats verurteilt und im Januar 1945 ins KZ Sachenhausen gebracht (wo man ihn nach seiner schweren Erkrankung Anfang Februar überraschend wieder entließ). Kasack, dem jetzt die Verlagsleitung anvertraut war und der seit 1942 an seinem Roman »Die Stadt hinter dem Strom« arbeitete, legte die Manuskriptseiten beiseite und schrieb das einzige Prosastück, das in den Jahren der Hitler-Herrschaft erscheinen konnte, die scheinbar harmlose, unverfängliche Erzählung »Das Birkenwäldchen«, gedruckt 1944 im zweiten Heft der »Neuen Rundschau«. Er hatte lange gegrübelt, wie er dem inhaftierten Freund, der keine Briefe empfangen durfte, wohl aber Schriften seines Verlages, einen Gruß schicken könnte, und so erzählte er von Johann, einem Mann gleichen Alters, ihrer zufälligen Begegnung auf einem Berliner Bahnhof und wie sie danach oft gemeinsam »aus den grausam zerstörten Gebieten der Stadt« nach Potsdam fuhren, vorbei am belebenden Grün eines Birkenwäldchens, das der Zug kurz vor dem Ziel passierte. »Die Nähe des Todes«, berichtet der Erzähler, »umgab jeden von uns und führte von selbst zu einer ernsten Haltung dem Leben gegenüber. Was Wille und Energie, was die Kräfte des Verstandes mühsam meisterten, linderte ein Gang durch die Natur, ja schon ein gläubiger Blick aus dem Zug in die Unbeirrbarkeit des Wachsens und Grünens. So gewann das Birkenwäldchen in seinem unbeschwerten Gedeihen eine tiefere Bedeutung.«
Nur wenige Leser, schrieb Kasack später in seiner Prosasammlung »Mosaiksteine«, dürften in der Figur des Johann das Porträt Peter Suhrkamps erkannt haben mit all den versteckten Erinnerungen und der Botschaft, die diese Seiten enthielten. »Die wirkliche Literatur«, die in Deutschland entstand, meinte Schriftstellerkollege Hans Erich Nossack 1966, »war damals eine illegale Geheimschrift.« Und er ergänzte: »Praktisch haben solche Männer wie Hermann Kasack die Literatur und den Sinn für Qualität über die Jahre der absoluten Barbarei gerettet, und vielleicht Kasack mehr als andere, da er dann zugleich der Chronist des Todesreiches wurde, in dem wir seit 1933 vegetierten.«
Kasack hat dieses Todesreich, das er im Roman »Die Stadt hinter dem Strom« so minutiös und beklemmend entwarf, früh gesehen, schon 1942, als er über den Potsdamer Platz in Berlin lief, wo alles noch heil war, Straßen und Häuser. Mit »unbeirrbarer Sicherheit«, erklärte er 1949 in seiner Dankrede für den Fontane-Preis, habe er die Umgebung so zerstört und gespenstisch wahrgenommen, wie sie bei Kriegsende dann aussah. Auffallend kühl und distanziert erzählte er in seiner apokalyptischen Vision vom Orientalisten Robert Lindhoff, den eine unbekannte Behörde in die mythische Ruinenstadt jenseits des Stroms schickt, ins Zwischenreich von Leben und Tod, um eine Chronik zu verfassen. Er sieht Menschen, die sich in den Katakomben und Trümmern wie Puppen bewegen, dirigiert von unsichtbarer Hand, ausgesetzt einer unheimlichen, monströsen Schattenwelt, und wenn er schließlich zurückkehrt ins alte Leben, trifft er auch dort nur auf Zerstörung, Schutt und Asche.
Der Roman, 1947 im Suhrkamp-Verlag erschienen, wurde eines der meistgelesenen und meistübersetzten Bücher der Nachkriegszeit. Er fragte nicht nach geschichtlichen Zusammenhängen, auch nicht nach den Ursachen der Katastrophe, aber er traf auf eine Leserschaft, die im Buch bestürzt die eigene Welt wiederfand. Kasack, dieser schmale, leise, bescheidene Mann, »Meister unserer Situation«, wie der Lyriker Wilhelm Lehmann urteilte, war nun berühmt und wurde, seit 1949 in Stuttgart zu Hause, für Jahre eine einflussreiche Figur des Literaturbetriebs in der Bundesrepublik, Mitglied, von 1953 bis 1963 auch Präsident der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, Förderer jüngerer Autoren, Herausgeber der Werke Gertrud Kolmars und Oskar Loerkes. Er starb, nahezu blind, am 10. Januar 1966, knapp siebzig Jahre alt. Da war es um den unermüdlichen Anreger, unermüdlichen Helfer, unermüdlichen Freund, wie Siegfried Unseld bei der Beerdigung sagte, schon auffallend still geworden.
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