Krieg in der Türkei: Block der Erdogan-Kritiker wächst

Vor deutsch-türkischen Regierungsgesprächen: Aufrufe gegen Repression, Menschenrechtsverletzungen und den Krieg gegen die Kurden / Proteste am Freitag in Berlin: »Not Welcome, Mr. Davutoglu«

  • Lesedauer: 6 Min.

Berlin. Krieg gegen die eigene Bevölkerung, Repression gegen Kritiker und die Opposition, Verfolgung der Kurden: Vor den deutsch-türkischen Regierungskonsultationen wächst in der Bundesrepublik das Lager der Kritiker des Erdogan-Regimes. Nicht nur Linkspartei und Grüne kritisierten den Türkei-Kurs der Bundesregierung und verlangten angesichts des Krieges im Südosten und der Repression des Regimes ein Ende der »Komplizenschaft mit Erdogan«.

Rund 100 Künstler haben Bundeskanzlerin Angela Merkel in einem offenen Brief aufgefordert, bei den Gesprächen am Freitag Meinungsfreiheit und Rechtsstaatlichkeit in der Türkei einzufordern. Seit Monaten hat die Repression gegen Journalisten und Linke zugenommen. Demokratische Wissenschaftler forderten in einem weiteren Appell, die Bundesregierung müsse etwa gegen »die äußerst repressiven Maßnahmen der türkischen Regierung gegen« Kritiker unternehmen - Ankara geht gegen die Unterzeichner eines Friedensaufrufes von zahlreichen Akademikern mit Verfolgungsmaßnahmen vor.

In einem weiteren Aufruf internationaler Intellektueller wird sich »für das Recht, im Krieg den Frieden zu fordern« engagiert, Solidarität mit den Akademikern aus der Türkei fordern namhafte Wissenschaftler aus aller Welt. Darüber hinaus prangern Nichtregierungsorganisationen die schweren Menschenrechtsverletzungen an, die im Krieg der Regierung von Recep Tayyip Erdoğan im Südosten des Landes gegen kurdische Kräfte und die Zivilbevölkerung verübt werden. Und nicht zuletzt geht es um das völkerrechtswidrige Vorgehen Ankaras gegen Geflüchtete im eigenen Land.

Amnesty forderte, Menschenrechtsverletzungen in der Türkei müssten »Kernthema« der deutsch-türkischen Regierungskonsultationen sein. »Solange die Türkei Flüchtende zur Rückkehr nach Syrien und in den Irak zwingt, müssen Bundesregierung und EU ihre Zusammenarbeit mit der Türkei in der Flüchtlingsfrage auf Eis legen«, so die Türkeiexpertin Marie Lucas. Deutschland schweige nicht nur zu den »völkerrechtswidrigen Abschiebungen« von Flüchtlingen, sondern auch zur »willkürlichen Tötung von Zivilisten und unverhältnismäßigen Ausgangssperren im Südosten der Türkei«.

Der Brief der Künstler, initiiert von der Intendantin des Berliner Maxim Gorki Theaters, Shermin Langhoff, warnte die Bundesregierung davor, das Regime in der Türkei kritiklos für die Kooperation im eigenen Interesse zu nutzen. »Partnerschaft kann jedoch nicht bedeuten, bei Menschenrechtsverletzungen wegzusehen. Wir appellieren deshalb an Sie, Frau Bundeskanzlerin, sich am Freitag und in den zukünftigen Gesprächen mit der türkischen Regierung für Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Pluralismus in der Türkei einzusetzen«, heißt es in dem Aufruf, den auch die Filmemacher Fatih Akin und Dani Levy, die Schauspieler Benno Fürmann, Katja Riemann und Jasmin Tabatabai sowie Autor Moritz Rinke und Musikerin Inga Humpe unterzeichnet haben.

Der Bund demokratischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler BdWi protestierte in einem Offenen Brief an Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier gegen die militärischen Maßnahmen der türkischen Regierung in den kurdischen Gebieten und gegen die Zivilbevölkerung. Man unterstütze den Aufruf der Akademiker für den Frieden und erklärt den betroffenen türkischen und kurdischen Kollegen seine volle Solidarität - ihnen würden Entlassungen, Berufsverbote und Verhaftungen drohen. Steinmeier solle gegenüber der Regierung in Ankara darauf drängen, dass Autonomie und Meinungsfreiheit respektiert werden. Mittlerweile hätten »die Botschafter der USA und Großbritanniens gegen die autoritären Maßnahmen der türkischen Regierung Stellung bezogen. Wir halten es für notwendig, dass auch die deutsche Bundesregierung der türkischen Regierung gegenüber nachdrücklich diese Verletzung elementarer Grundrechte beanstandet«.

Internationale Intellektuelle, darunter etwa Judith Butler, Noam Chomsky, Etienne Balibar und Slavoj Zizek, kritisierten, der türkische Staat habe die Pflicht, die friedensbewegten Akademiker in der Türkei »vor Drohungen und Angriffen Dritter zu schützen. Die Regierungen der Europäischen Union, mit der türkischen Regierung im engsten Kontakt, sind aufgefordert, ihren Bündnispartner auf die Wahrung des Rechts zu verpflichten«. Nur sehr wenige Medien würden noch wagen, »Kritik zu üben, nationalistische Organisationen lancieren individuelle Morddrohungen per Telefon, ein landesweit bekannter Mafiaboss will ‘im Blut der Verräter baden’. An den Wänden einiger Provinzuniversitäten werden Plakate mit den Gesichtern von UnterzeichnerInnen des Appells verklebt.«

Die Türkei geht seit Dezember vergangenen Jahres in einer militärischen Großoffensive gegen die PKK und andere kurdische Kräfte im Südosten des Landes vor. In den Städten Cizre, Silopi und im Viertel Sur der Kurdenmetropole Diyarbakir gelten immer wieder Ausgangssperren, das Militär greift willkürlich die Städte an. Dort liefern sich Sicherheitskräfte schwere Gefechte mit der PKK Jugendorganisation YDG-H. Auch gegen die linke Oppositionspartei HDP nimmt die Repression zu. Zahlreiche Zivilisten wurden getötet, teils durch gezielte Schüsse. Anwohner haben keinen Zugang zu Lebensnotwenidgem und können oft die Leichen nicht bergen - oder werden dabei von Sicherheitskräften getötet.

Anlässlich der am Freitag stattfindenden ersten deutsch-türkischen Regierungskonsultationen ruft ein Bündnis aus kurdischen und linken Gruppen auch zu Protesten auf. Unter dem Motto »Not Welcome, Mr. Davutoglu« soll gegen »Erdogans Staatsterror« sowie die »Kumpanei der EU und der Merkel-Regierung mit dem Erdogan-Regime« demonstriert werden, heißt es dazu in einem Aufruf. Zu den Organisationen, die die Proteste unterstützen, gehört die türkisch-kurdische Linkspartei HDP.

»Bundeskanzlerin Merkel stärkt mit dem Empfang den türkischen Staatspräsidenten Erdogan und Ministerpräsident Davutoglu. Wir werden nicht länger dulden, dass die deutsche Regierung die Türkei unterstützt, während diese weiter Kurden ermordet«, sagt die Berliner Ko-Vorsitzende der HDP, Methap Erol. »Die deutsche Regierung hofft auf Vorteile in der Flüchtlingsfrage. Deswegen will sie nicht wahrhaben, was in den kurdischen Gebieten passiert. Dort wird Krieg gegen uns geführt«, sagt Erol weiter. Auch die kurdische Organisation »Azadi« unterstützt die Aktionen gegen den Staatsbesuch. Erdogan führe im Südosten der Türkei »unter dem Deckmantel des ›Antiterror-Kampfes‹ einen erbarmungslosen Krieg (...) gegen die kurdische Zivilbevölkerung«, schreiben die Aktivisten in einer Pressemitteilung. »Das Schweigen der Bundesregierung (...) und die Einladung dieser hochrangigen türkischen Delegation lassen darauf schließen, dass sie das staatsterroristische Vorgehen des Erdogan-Regimes gutheißt und unterstützt«, heißt es.

In Berlin soll eine Demonstration gegen den Staatsbesuch an diesem Freitag um zehn Uhr am Hegelplatz nahe der Humboldt-Universität beginnen und bis zum Kanzleramt führen. Dort wird das Aktionsbündnis ab elf Uhr eine Kundgebung abhalten. Für 14 Uhr ist eine Abschlussdemonstration angekündigt. Agenturen/nd

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.