Besuch bei einer alten Dame

Siebzig Jahre nach der Shoah erhält Ilse Langguth endlich das Geschenk zu ihrem 17. Geburtstag

»Es gibt Sachen, die glaubt man kaum«, sagt Gerhard Langguth: »Eine solche betrifft meine Mutter. Die Geschichte könnte für ›neues deutschland‹ interessant sein.«

Im Herbst vergangen Jahres ersteigerte das Jüdische Museum Berlin ein Fotoalbum. Im Katalog des Auktionshauses an der Schweizer Grenze war dessen Herkunft mit »Groß Breesen« ausgewiesen, ein Ort in Schlesien (heute Brzeźno). Dort befand sich eine der Ausbildungsstätten, die von der »Reichsvertretung der Deutschen Juden« ab 1934 deutschlandweit gegründet wurden, um jüdische Kinder und Jugendliche auf die Alija, die »Rückkehr« ins Gelobte Land, Eretz Israel, vorzubereiten.

Das Fotoalbum gelangt auf den Schreibtisch von Ulrike Neuwirth, Archivarin im Jüdischen Museum. Sie weiß, was für ein einzigartiger Schatz vor ihr liegt. Sie will die Geschichte des Albums und der in ihm abgebildeten jungen Menschen ergründen. Auf der ersten Seite liest sie: »Ilse zum 29.5.1938 von ihrer Gruppe«. Ein Geburtstagsgeschenk? Wer ist Ilse? Hat sie die Shoah überlebt? Ulrike Neuwirth recherchiert in Einwohnermelderegistern und stößt auf eine verheißungsvolle Eintragung, die für den 29. Mai 1921 die Geburt eines Mädchens namens Ilse Schlesinger im oberschlesischen Neustadt mitteilt.

Die Archivarin wendet sich an die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN-BdA) - und hat Glück. In deren Mitgliederlisten ist eine Ilse Langguth, geborene Schlesinger, verzeichnet. Sie lebe jetzt in einem Pflegeheim im Prenzlauer Berg. Der Kontakt zum Sohn wird vermittelt. Zu dritt besuchen wir Ilse Langguth. Sie ahnt nicht, welche Überraschung auf sie wartet.

Die 94-Jährige kann es kaum fassen. Ungläubig fragt sie immer wieder: »Das Fotoalbum ist tatsächlich für mich? Ein Geschenk? Zu meinem 17. Geburtstag?« Sie hat es seinerzeit nicht erhalten. Nach zwei glücklichen Jahren auf Gut Groß Breesen musste sie von heut’ auf morgen den Koffer packen. Die Eltern hatten das Geld und die notwendigen Papiere für ihre Ausreise beisammen. Ilse Schlesinger blieb keine Zeit, sich von all ihren Freundinnen und Freunden zu verabschieden. Wenige Tage vor ihrem Geburtstag trat sie die große Reise an, die vor ihr schon Bruder Hans unternahm - nicht nach Palästina.

Wie kam das Fotoalbum unter den Auktionshammer? Wurde es von einem ehemaligen Zögling der jüdischen Lehranstalt bewahrt? Oder von einem Täter? Ist es in der Pogromnacht vom 9. zum 10. November 1938 beschlagnahmt worden? Als reichsweit die Synagogen brannten, überfielen Braunhemden auch das Gut Groß Breesen, verschleppten Kinder, Erzieher und Werkmeister ins KZ Buchenwald. Oder hat es jemand aus der Ortschaft an sich genommen, nachdem das Lehrgut 1942 von der SS geschlossen und die letzten 114 Kursanten samt ihren Lehrern nach Auschwitz deportiert wurden?

Ilse Schlesinger, die 1936 zu den ersten 120 Kursanten gehörte, war da schon längst in Großbritannien. Sie arbeitete zunächst auf einer Rinderfarm in der südenglischen Grafschaft Dorset. Dabei kam ihr zugute, was sie in Groß Breesen gelernt hatte. Im Oktober 1938 konnte sie ein Studium an der Landwirtschaftlichen Hochschule in Glasgow aufnehmen. Mit Freundinnen und Freunden des Lehrgutes blieb sie in Kontakt durch Rundbriefe. »Die Groß Breesener waren eine verschworene Gemeinschaft, auch nachdem sie in alle Welt verstreut wurden«, weiß Ulrike Neuwirth. Der Jahrzehnte überdauernde Zusammenhalt verdankte sich Curt Bondy, dem Jugendleiter des Lehrgutes. Der studierte Psychologe hatte sich in den sogenannten Goldenen Zwanzigern um eine Reform des Jugendstrafvollzugs bemüht, die noch heute als vorbildhaft gilt. Nach der »Reichskristallnacht« sechs Wochen im KZ auf dem Ettersberg bei Weimar interniert, emigrierte er hernach in die USA, wurde Professor in Virginia und lehrte nach dem Krieg in Hamburg.

Ulrike Neuwirth möchte wissen, wer die Jungen und Mädchen auf den vergilbten Fotografien sind. Die alte Dame bemüht sich redlich. Aber: »Ach, das ist doch schon so lange her …« Ja, Curt Bondy erkennt sie sofort. »Er wurde von uns allen verehrt.« Von den Mitschülerinnen und Mitschülern ist ihr jedoch zumeist nur der Vor- oder Spitzname im Gedächtnis geblieben: Hanna, Ruth, Gustl, Albrecht und Hans Huckebein, der Unglücksrabe, so genannt nach einer Bildergeschichte von Wilhelm Busch … Sie weiß auch noch, dass sie damals Gruppen bildeten, benannt zumeist nach ihrem »Anführer«, wie etwa die »Hakanesen« nach dem Gruppenleiter Heinz Kahn.

Mit den Fotos kommen die Erinnerungen wieder. »Es war schön. Wir lebten in einem richtigen Schloss.« Tatsächlich hat das Gutshaus Ähnlichkeit mit einer herrschaftlichen Residenz, wenn auch der Putz bröckelte. »Wir haben hart gearbeitet, mussten früh um vier Uhr raus: Kühe melken«, erzählt Ilse Langguth. Und Ställe ausmisten, Unkraut jäten ... »Autsch, das hat weh getan!«, ruft sie plötzlich aus. Wir erschrecken. Und sind sogleich beruhigt. Ilse Langguth zeigt uns den Finger, den sie sich vor 80 Jahren beim Garbenschneiden ritzte. Dann lacht sie herzhaft auf: »Da spielen wir Theater. Die Kostüme haben wir selbst genäht. Ich bin die im Brautkleid.« Ach? Und was für ein Stück spielten sie? »Irgendetwas Klassisches«, antwortet Ilse Langguth. »Romeo und Julia«, das an Schulen weltweit wohl am häufigsten gespielte Drama? Sie schüttelt den Kopf: »Nein, ein anderes berühmtes Stück.« Deutsche Bühnenautoren aufzuführen, war den Juden damals untersagt. Aber Lessings »Nathan der Weise«, an »arischen« Bühnen verboten, könnten sie doch in der Abgeschiedenheit des Gutes einstudiert haben? Gab Ilse Schlesinger die Recha, die Adoptivtochter des Juden Nathan, eine Christin, vom jungen Tempelherrn Curd von Stauffen begehrt? »Könnte sein.«

Die Archivarin hat die Fotos aus dem Album vorsorglich kopiert und in DIN A4-Format vergrößert. Zur Erleichterung für altersmüde Augen. Dennoch spricht nicht jedes Gesicht zu Ilse Langguth. Vertraut sind sie ihr alle, »aber ich komme einfach nicht auf die Namen«. Sie ist sichtlich verärgert über sich. Wir trösten sie. Wenn ein Name aus der Vergangenheit zurückkehrt, möge sie diesen rasch notieren. Das wäre eine große Unterstützung für das Jüdische Museum, wenn man das Album mal in einer Ausstellung präsentiert. Ilse Langguth will unbedingt helfen. »Hier feiern wir Chanukka«, entsinnt sie sich. Das Licht des neunarmigen Leuchters erhellt das Antlitz der brav auf ihren Stühlen sitzenden, in freudiger Erwartung harrenden Kinder.

Die Schlesingers hielten den Sabbat ein, achteten die Gebote und besuchten regelmäßig die Synagoge am Ratiborer Platz in Cosel (Koźle), einer Kleinstadt zwischen Hotzenplotz und Gleiwitz (Gliwice), erstmals anno domini 1104 urkundlich erwähnt. Dort verlebte Ilse Schlesinger eine unbeschwerte Kindheit - bis die Nazis an die Macht kamen. David Schlesinger war deutsch-national, im Ersten Weltkrieg Frontsoldat, Träger des Eisernen Kreuzes, Feldwebel der Reserve. Er führte einen Kolonialwarenladen. Tochter Ilse hat ihn oft zum Oderhafen begleitet. Das Mädchen bestaunte die großen Schiffe, die von weit her kamen und aus deren Bauch eine Fracht nach der anderen quoll, darunter die Kisten mit exotischem Obst, Gemüse und Gewürzen, die ihr Vater erwartete. »Das war sehr aufregend«, sagt Ilse Langguth. Manchmal gelang es ihr, den Vater zu überreden, zur Werft zu gehen. Sie beobachtete gern, wie ein Ozeanriese emporwuchs. Da die Eltern kaum Zeit hatten, das Geschäft forderte seinen Tribut, wurde Ilse oft in die Obhut des Großvaters mütterlicherseits, Hermann Tichauer, gegeben. »Großmutter starb früh. Großvater beköstigte mich, ging mit mir spazieren und brachte mir das Kartenspiel bei.« Und er ließ sie wissen, sie sei eine Großnichte von Ferdinand Lassalle.

Ilse Schlesinger besuchte die Volksschule und das Gymnasium. Das Abitur konnte sie nicht ablegen, 1935 wurde sie »ausgeschult«, wie die Austreibung jüdischer Kinder aus deutschen Schulen behördlich hieß. In der Nacht des Novemberpogroms wurde auch die Synagoge in Cosel in Brand gesetzt, zuvor hatten Nazis unter dem Beifall grölender Gaffer den Davidstern von der Kuppel des Gotteshauses gestürzt. In Cosel gemahnen heute an vormaliges jüdisches Leben nur einige zerbrochene, von Unkraut überwucherte Grabsteine. »Hitler wollte alle Juden totschlagen«, stöhnt Ilse Langguth. Sie stand mit ihren Eltern und dem Großvater bis 1942 in Kontakt. Dank dem Roten Kreuz.

»Mir geht es ausgezeichnet, ich wohne bei Underwoods, arbeite viel gegen prima Gehalt. Was macht ihr? Herzlichst eure Tochter und Enkeltochter«, lässt Ilse Schlesinger in einer Red Cross Message vom 23. Juli 1940 die Ihren in Cosel wissen. Über das Deutsche Rote Kreuz erreicht sie ein Geburtstagsglückwunsch vorfristig am 13. April 1942: »Wie geht es dir mit 21? Nun sind es schon drei Jahre her, da du uns verlassen hast. Tausend Küsse zu deinem Geburtstag senden Großvater, Vater und Musch.« (Kosewort für die Mutter) Die Briefe überschritten nicht die vorgeschriebenen 25 Worte. Auch fehlen die amtlich Juden verordneten Beinamen »Sara« und »Israel« nicht.

Als Absendeadresse in Cosel ist auf den frühen Schreiben Ratiborerstraße 7 angegeben, ab Frühjahr 1942 Eichungerstraße 34, jüdischer Friedhof. Daraus konnte Ilse Schlesinger schließen, dass die Eltern und der Großvater gleich Millionen Juden exmittiert, aus ihrer Wohnung vertrieben worden sind. Sie hat sich jedoch nicht vorstellen können, dass ihre Liebsten im Leichenkeller des Friedhofes hausen mussten. »Hoffen Dich gesund, sind es auch«, heißt es in einer Nachricht, die über einen Monat unterwegs ist und Ilse Schlesinger am 25. Juni 1942 erreicht: »Haben es jetzt schön hier, bauen Gemüse an. Von Hans keinerlei Nachricht. Denken deinen Geburtstag. Herzlichste Grüße Großvater, Eltern.« Offenbar haben die von der Außenwelt hermetisch abgeriegelten, unglückseligen jüdischen Familien von Cosel zur Selbstversorgung Beete zwischen den Grabsteinen angelegt. Ilse Schlesinger antwortet auch im Namen des nicht sehr schreibfreudigen Bruders umgehend und erhält mit Datum vom 10. Juli 1942 die Zeilen: »Sind gesund, macht Euch keine Sorgen. Haben allmonatlich geschrieben. Freuen uns über gutes Ergehen. Werdet glücklich, lebt wohl - innigst Vatel, Muttel, Großvatel.« Das klingt nach Abschied. Es war ein endgültiger.

Hans und Ilse Schlesinger erfuhren nicht, wo, wann und wie ihre Eltern und ihr Großvater starben. Gerhard Langguth hat eine Vermutung. Im Sommer 1944 hat man die letzten acht jüdischen Bürger von Cosel »auf Transport«, nach Auschwitz, geschickt. Obwohl er seinen Großvater nicht kennengelernt hat, ist der Enkel überzeugt: »Er wird auf seinen Status als Frontsoldat gepocht und das Eiserne Kreuz den Wachmannschaften vorgehalten haben: ›Hier steht: Der Dank des Vaterlandes ist mir gewiss.‹« David Schlesingers Protest gegen die unwürdige Behandlung ließen sich die Büttel des Mordregimes nicht lange gefallen. »Ich denke, meine Großeltern wurden unterwegs eiskalt erschossen«, äußert der studierte Kriminalist.

Es fand sich kein Vermerk über die Ankunft von David und Klara Schlesinger in Auschwitz. Deutsche Todesbürokraten waren korrekt, Chaos in ihrer Mordstatistik duldeten sie selbst im Chaos zu Kriegsende nicht. Über Hermann Tichauer, den Vater von Klara Schlesinger, hinterließen sie in den Akten des KZ Theresienstadt: »an Altersschwäche gestorben«. Ilse Langguth hat von der israelischen Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem Testimonies erhalten, Bezeugungen, dass ihre Eltern und ihr Großvater Opfer der Shoah wurden.

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