An die Wurzel
Wolfgang Hübner über einen falschen Ton in der Flüchtlingsdebatte
In die flüchtlingspolitische Diskussion mischt sich ein Unterton, der stutzen lässt. Der eine oder andere Politiker, der eine oder andere Journalist formuliert, man müsse die Flüchtlingsfrage an der Wurzel lösen. Das klingt gut, geradezu radikal – gemeint ist dann aber zuweilen: in der Türkei. Deutschland müsse in Verhandlungen mit Ankara dafür sorgen, dass von dort nicht mehr so viele Flüchtlinge kommen können.
Hier liegt ein schwerer Fall der Verwechslung von Ursache und Wirkung vor. Die türkische Asylpolitik, so kritikwürdig sie auf ihre Weise sein mag, ist nicht die Wurzel der massenhaften Fluchtbewegungen aus Syrien, Irak, Afghanistan und anderen kriegs- und krisengeschüttelten Ländern. Die Wurzel liegt in den alltäglichen Katastrophen in jenen Ländern, die sich weitab vom reichen Westen abspielen, mit seiner Politik aber durchaus zu tun haben. Die Türkei ist aufgrund ihrer geografischen Lage ein Ventil, das nach Belieben geöffnet und geschlossen werden kann. Dass Ankara diese Option machtpolitisch benutzt, steht auf einem anderen Blatt.
Wollte der Westen das Flüchtlingsproblem an der Wurzel packen, dann müsste er viel sensibler mit Waffenlieferungen in Krisenregionen umgehen. Dann müsste er sich konsequent für die Durchsetzung von Menschenrechten weltweit einsetzen und sich von der Unterscheidung zwischen nützlichen und lästigen Diktaturen bzw. Potentaten trennen. Dann müsste er mit seiner erpresserischen Freihandelspolitik Schluss machen. Dann müsste er eine vorausschauende Umweltpolitik betreiben, die künftige Wellen von Klimaflüchtlingen verhindert. Dann müsste er sich aufraffen, mehr für Entwicklungshilfe zu tun; die Staaten müssten endlich 0,7 Prozent ihres Bruttosozialprodukts dafür reservieren, wie es die UNO schon seit 1970 fordert. (Wenige Länder wie Schweden und Norwegen tun das übrigens längst; Finanz- und Wirtschaftsmächte wie die Schweiz, Frankreich, Deutschland, USA, Kanada, Japan usw. leisten sich die Peinlichkeit, permanent deutlich darunter zu bleiben.)
So sähe eine tatsächliche Wurzelbehandlung aus. Sie würde nicht allein Krieg und Elend beseitigen, aber sie könnte entscheidend dazu beitragen.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.