Jetzt kommt die Nagelprobe
Günter Morsch, Direktor der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten, über die Erinnerung ohne Zeitzeugen
Professor Morsch, was wird aus der Erinnerung an die Nazidiktatur und den Widerstand gegen sie, wenn es es keine Zeitzeugen mehr gibt, die Auskunft geben können?
Die Gedenkstätten haben sich darauf schon seit geraumer Zeit eingestellt. Spätestens seit Mitte der 1990er Jahre haben wir uns in vielfältiger Weise vorbereitet. Zum einen durch aufwendige Oral-History-Projekte. Tausende Zeitzeugen sind befragt worden. Zum anderen durch die systematische Sammlung von Nachlässen aller Art, die konservatorisch korrekt aufbewahrt und sukzessive akribisch erschlossen werden. Archive wurden angelegt; das betraf weniger die Gedenkstätten in den neuen Bundesländern, denn da waren solche bereits vorhanden, sondern vielmehr die Gedenkstätten in den alten Bundesländern. Und drittens wurde mit einer intensiven Erforschung der Geschichte der Konzentrationslager begonnen. Bis dato haben sich die professionellen Historiker – und das gilt für die beiden deutschen Staaten sowie die internationale Community – gar nicht oder wenig um die Konzentrationslager gekümmert. Deren Geschichte haben sie lange Zeit den Zeitzeugen allein überlassen, beispielsweise einem Eugen Kogon.
Aber es erschienen doch schon in der Zeit deutscher Zweitstaatlichkeit wissenschaftliche Monografien über das KZ-System?
Sie blieben Ausnahmen. Die universitäre Geschichtswissenschaft ist erst durch selbstbewusste Gedenkstätten herausgefordert worden, die ab Mitte der 1990er Jahre eigene Studien betrieben, und dies sehr erfolgreich. Um ein Beispiel zu nennen: Die Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten hat in ihren Publikationsreihen bis dato 70 Bände publiziert, ein riesiger Forschungsertrag.
Der vierte Pfeiler ist die pädagogische Arbeit. Und da muss man sagen, waren die westdeutschen Gedenkstätten in den 1980er Jahren schon weiter entwickelt als die ostdeutschen. Daran konnte man anknüpfen. Auch hier galt es, eine Pädagogik zu entwickeln, die ohne Zeitzeugen auskommen muss.
Es gibt ein geflügeltes Wort: «Der Zeitzeuge ist der natürliche Feind des Historikers.» Ohne jene, die es erlebten und erlitten, wüssten wir aber eigentlich nichts. Oder würden der Sicht der Täter auf den Leim gehen.
Zweifellos: Zeitzeugen sind nicht zu ersetzen, bleiben unersetzbar. Es gibt aber auch Gedenkstätten, die schon immer ohne Zeitzeugen auskommen mussten. Denken Sie an die Euthanasie-Gedenkstätten; das T 4-Mordprogramm hat keiner überlebt, nur die Täter. Da wurden also schon Methoden entwickelt, wie man pädagogisch ohne Zeitzeugen arbeiten kann. Kurzum: Wir sind schon seit Längerem darauf eingestellt, unseren humanitären Aufgaben als Gedenkstätte – Aufklärung, Erinnerung, Mahnung und Bewahrung – auch ohne Zeitzeugen wahrzunehmen. Die Frage geht also nicht zuerst an die Gedenkstätten, sondern eher an die Gesellschaft. Und da mache ich mir Sorgen.
Inwiefern?
Der Paradigmenwechsel in den 1990er Jahren kam ja nicht von selbst. Viele im Ausland waren aufgrund der Geschichte, insbesondere des Zweiten Weltkrieges, gegenüber der deutschen Einheit sehr skeptisch eingestellt, denken Sie an François Mitterrand, an Margret Thatcher, an die Polen, Russen oder Israelis. Bundeskanzler Helmut Kohl war das klar, und nicht nur ihm: Das vereinte Deutschland muss einen offenen und ehrlichen Umgang mit seiner Geschichte beweisen und das Vertrauen im Ausland dafür schaffen, dass der Terror, mit dem das «Dritte Reich» fast ganz Europa überzog auch in der Zukunft Teil deutscher Identitäten bleibt. Insofern waren die Gedenkstätten auch außenpolitisch bedeutsam. Um Vertrauen zu schaffen.
Nicht zuletzt deshalb wurden daraufhin die großen NS-Gedenkstätten, was in der alten Bundesrepublik bis dahin nicht geschehen war, institutionell gefördert, zunächst jene im Osten, dann auch im Westen. Man hat erkannt, wie wichtig moderne, international anerkannte Gedenkstätten sind, um das Ausland zu überzeugen, dass dieses neue Deutschland, die Berliner Republik, wie man damals sagte, die Vergangenheit nicht vergisst. Auch auf Dauer nicht vergisst. Die Gedenkstätten sind von den marginalen Rändern, in denen sie sich in der alten Bundesrepublik befanden, inzwischen in die Mitte der Gesellschaft gerückt.
Manche meinen, das heutige Deutschland sei zugepflastert mit Gedenkstätten?
Das meine ich nicht. Was ich befürchte: Politik könnte die Gedenkstätten mitunter als Foren nutzen, um tagespolitische Ziele zu verfolgen.
Geschichte wird instrumentalisiert.
Diese Entwicklung, die man vor allem bereits in einigen mittel- und osteuropäischen Ländern beobachten kann, halte ich für ein großes Problem. Dagegen müssen wir Dämme bauen. Die mittlerweile auch schon fünf Jahre alte Ethik-Charta des International Committee of Memorial Sites (ICMemo) war schon eine Reaktion darauf. Für die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit und die weitere Erhaltung der historischen Orte des Terrors in Deutschland kommt erst jetzt die Bewährungsprobe. Wenn es den außenpolitischen Druck nicht mehr gibt, den bisher vor allem die internationalen Überlebendenverbände organisiert haben, wird sich zeigen, ob Deutschland seine Geschichte wirklich angenommen hat.
Was sagen Sie zu den Karikaturen in ausländischer Presse, die deutsche Politiker in SA- oder SS-Uniformen zeigen?
Diese sind unpassend und geschmacklos. Ihre Unangemessenheit entlarvt sich, wenn man sich den gegenwärtigen Stand deutscher Erinnerungskultur anschaut. Wir begrüßen in Sachsenhausen auch viele diplomatische Vertreter des Auslandes. Und da bekommt die deutsche Erinnerungskultur häufig viel Lob. Wobei man vergisst, dass es lange Jahre große Lücken und heftige Widerstände gegen die Erinnerung an den NS-Terror gab.
Erst in den 1990er Jahren gelang es ehemaligen KZ-Häftlingen und Zwangsarbeitern, dank Unterstützung der USA, deutsche Konzerne zu zwingen, sich endlich ihrer braunen Vergangenheit zu stellen und in einen Entschädigungsfonds einzuzahlen.
Das ist wieder ein anderes Thema. Mir geht es um eine außenpolitische Problemlage. Man hört momentan immer wieder: Die Deutschen sollten endlich ihre Fixierung auf die NS-Vergangenheit ablegen und europäische oder gar weltpolitische Verantwortung auch militärisch mittragen. In Büchern von wissenschaftlichen Beratern der Bundesregierung kann man lesen, Deutschland sei der neue Hegemon Europas. Da scheint also etwas umgeschlagen zu sein. Deshalb sage ich: Jetzt wird es sich zeigen, wie stark die deutsche Gesellschaft die Erinnerung an den Nationalsozialismus internalisiert hat. Jetzt kommt die Nagelprobe. Wie werden sehen, wie sich die Erinnerungskultur in Deutschland weiter entwickelt.
Haben Sie eine Vermutung?
Es gibt Anzeichen, die einen positiv stimmen, zweifelsohne. Kürzlich fand im Bundestag wieder eine Anhörung zur Evaluierung der 1999 beschlossenen und seitdem immer wieder bestätigten Gedenkstättenkonzeption des Bundes statt. Es scheint momentan niemanden zu geben, der die Notwendigkeit einer Fortsetzung in Zweifel ziehen will. Aber mittelfristig bin ich mir nicht so sicher. Denn diese historischen Orte, an denen negative Geschichte gelehrt werden muss, erfordern einen konstant hohen Aufwand, personell und finanziell, um das international anerkannte, hohe Niveau von historischer Forschung, moderner Ausstellungen und anspruchsvoller Pädagogik halten zu können.
Wir zählen in Sachsenhausen inzwischen jährlich 660 000 Besucher; als ich 1993 angefangen habe, waren es 168 000. Im gleichen Zeitraum aber ist das Personal um ca. 20 Prozent reduziert worden. Die Ansprüche an die Gedenkstätten sind nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ enorm angewachsen. Der Erfolg wurde, wenn Sie so wollen, zum Handicap. Zwar wurde allgemein anerkannt, dass Gedenkstätten heute moderne zeithistorische Museen mit besonderen humanitären und bildungspolitischen Aufgaben sind. Doch der auch von der Gedenkstättenkonzeption des Bundes proklamierte Wandel ist teilweise auf der langen Wegstrecke stecken geblieben.
Weil die meisten Gelder in Gedenkorte und Museen zur «zweiten deutschen Diktatur» fließen?
Ganz so ist es nun auch wieder nicht. Ich komme persönlich aus dem Museumsbereich und war in einem Industriemuseum, was hinsichtlich vieler Aspekte durchaus vergleichbar ist. Es gibt denkmalgeschützte Originalgebäude, die man mit nicht geringem Aufwand erhalten und pflegen muss, ein riesiges, über dutzende von Hektar verteiltes Gelände und verschiedene Ausstellungen. Und man hat nicht wenige, neugierige Besucher, die aber bei manchen Industriemuseen bei weitem nicht das Niveau der großen Gedenkstätten erreichen.
Die Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages «Überwindung der Folgen der DDR-Diktatur im Prozess der deutschen Einheit» hat dankenswerterweise den Begriff der Gedenkstätten als zeithistorische Museen aufgenommen und das dahinter stehende Konzept ist, wie ich bereits sagte, auch in die Gedenkstättenkonzeption des Bundes von 1999 eingeflossen. Indes, in den letzten Jahren sind wir nur noch mühsam vorangekommen – bei stark gestiegenem Besucherinteresse und immer höheren, berechtigten Forderungen an die Qualität der Gedenkstättenarbeit.
Die Topographie des Terrors in Berlin hat jährlich 1,2 Millionen Besucher, die KZ-Gedenkstätte Dachau ca. 800 000 und die Gedenkstätten in Bergen Belsen und Buchenwald meines Wissens jeweils 500 000. Das sind Besucherzahlen, die man sich vor wenigen Jahren nicht hat vorstellen können. Der mit viel Aufwand und Kraft in den 1990er und 2000er Jahren betriebene Modernisierungs- und Professionalisierungsprozess in den Gedenkstätten war, nicht zuletzt aufgrund der Unterstützung von Bundes- und Landesregierungen sowie vieler Organisationen und Personen der Zivilgesellschaft, außerordentlich erfolgreich. Aber die finanzielle und personelle Ausstattung der Gedenkstätten ist nicht adäquat mitgewachsen. Es sind daher auch in den nächsten Jahren einige Herausforderungen zu bestehen, denn es fehlt vielerorts immer noch an der sogenannten Hardware, die unverzichtbare Voraussetzung für eine qualitativ hochwertige und international konkurrenzfähige Gedenkstättenarbeit ist.
Attacken gegen Flüchtlinge und Forderungen nach Wiedereröffnung der Baracken in Buchenwald und Auschwitz lassen bezweifeln, dass die Deutschen ihre Geschichte internalisiert haben.
Das sind extreme Äußerungen, die man nur mit Entschiedenheit zurückweisen kann, die aber meines Erachtens noch keine breite gesellschaftliche Zustimmung finden. Das bedeutet jedoch nicht, dass man sie nicht ernst nehmen muss.
Die Frage ist, ob Politik und Gesellschaft auch weiterhin bereit sind, die vielfältige Erinnerungskultur und Gedenkstättenlandschaft in Deutschland zu erhalten, oder versucht man, die bisherige, dezentrale Erinnerungskultur auf wenige herausgehobene Orte zu konzentrieren. Solche Überlegungen sind jeder Verwaltung immanent, das Modewort dafür lautet «Synergien schaffen». Es wäre aber für die deutsche dezentrale Erinnerungskultur ein großer Verlust, wollte man die Darstellung des NS-Terrors auf wenige Gedenkstätten oder Museen konzentrieren. Und die authentischen Orte der Opfer des NS-Terrors auf ihre Rolle als internationale Friedhöfe reduzieren, wo nicht mehr geforscht und gelernt, sondern nur noch gedacht und getrauert wird. Und Besucher mittels elektronischer Hilfsmittel oder durch touristisch ausgebildete Guides über das Gelände geleitet werden.
Im Moment vermag ich solche Tendenzen nicht zu erkennen. Doch kann sich das schnell ändern, wenn andere Länder, wie demnächst Polen, große Museen zur Geschichte des Zweiten Weltkrieges eröffnen. Leider hat sich auch meine lange gehegte Hoffnung, dass moderne Regional- und Stadtmuseen die Geschichte der NS-Herrschaft entsprechend ihrer großen historischen Bedeutung in ihren neuen Dauerausstellungen behandeln, überwiegend als falsch herausgestellt. Zwölf Jahre, so hört man oft als Begründung, waren eben nur ein ganz kleiner Zeitraum der Geschichte.
Eine andere Entwicklung dagegen, die mir ebenfalls Sorgen bereitet, zeichnet sich bereits deutlicher ab. Mit dem zeitlichen Abstand zum 20. Jahrhundert scheint die Neigung zu wachsen, alle Kriege und staatliche Verbrechen unter dem Begriff des «Zeitalters der Extreme» zu entkontextualisieren, zu relativieren und zu vermischen. Unterschiedliche Ursachen und Gründe, Ideologien und Motive, Strukturen und Prozesse lösen sich auf in einem Einheitsbrei moralischer Betroffenheit. Daraus lernen könnte man nur, dass die Natur des Menschen das nicht mehr näher zu begründende «Böse» zulässt. Ich denke, die meisten Kolleginnen und Kollege, nicht alle leider, würden einem solchem Ansinnen vehement widersprechen.
In dem von beiden Arbeitskreisen der Berlin-Brandenburgischen Gedenkstätten ausgerichteten Forum für zeitgeschichtliche Bildung wird darüber zumeist offen, konstruktiv und sachlich diskutiert. Zu meiner großen Verwunderung warf aber ein nicht geringer Teil der Mitglieder einer Enquete-Kommission der Landestages Brandenburg, die sich mit der Aufarbeitung der Geschichte der DDR-Diktatur beschäftige, dem sogenannten Beutelsbacher Konsens, der seit Anfang der 1970er Jahre wichtige Grundsätze für die politische Bildung formulierte, «Werterelativismus» vor. Das in dieser Vereinbarung der Kultusministerkonferenz erklärte Überwältigungsverbot und Kontroversitätsgebot stellten manche Mitglieder dieser parlamentarischen Kommission grundsätzlich in Frage. Das hat uns alle damals sehr beunruhigt. Auf einem der von beiden Arbeitskreisen veranstalteten Foren für zeitgeschichtliche Bildung, welches nicht ohne Grund in der Gedenk- und Begegnungsstätte Potsdam-Leistikowstraße stattfand, bekräftigten die allermeisten Vertreter der Gedenkstätten beider Diktaturphasen diese grundlegenden didaktischen Prinzipien. Wir haben uns sehr gefreut, dass diese einvernehmliche Diskussion zwischen Gedenkstättenexperten auch bei manchen Politikern einen Umdenkungsprozess initiierte.
Wie schätzen sie das historische Wissen der Schüler heute ein?
Obwohl es dazu Untersuchungen gibt, die manche übertriebene Befürchtungen aufkommen ließen, haben wir darüber nach wie vor kein gesichertes Wissen. Ich kann Ihnen nur die Eindrücke schildern, die wir in unserer pädagogischen Arbeit sammeln. Dabei muss natürlich voraus geschickt werden, dass es große Unterschiede gibt. Trotzdem meinen wir ganz allgemein einen Rückgang des historischen Grundlagenwissens festgestellt zu haben. Ein Drittel unserer leider häufig viel zu eng bemessenen Zeit an den außerschulischen Lernorten müssen wir inzwischen auf die Vermittlung von Basiswissen verwenden, z.B. welcher Art politisches System der Nationalsozialismus war, wie lange er über Deutschland und Europa herrschte, was ein Konzentrationslager ist und was dieses von einem Vernichtungslager unterscheidet. Oder, um ein anderes Beispiel zu nennen: Ich habe den Eindruck, dass viele Schülerinnen und Schüler glauben, es seien im «Dritten Reich» fast ausschließlich Juden verfolgt worden.
Der 27. Januar ist auch dieses Jahr wieder fast ausschließlich als Gedenktag für die ermordeten Juden wahrgenommen worden.
Leider müssen wir das immer wieder feststellen, dass trotz unserer Anstrengungen auch in Deutschland teilweise nur noch vom Holocaust-Tag gesprochen wird. Seit der Einführung des Tages der Opfer des Nationalsozialismus widmen wir in Sachsenhausen den 27. Januar regelmäßig unterschiedlichen Opfergruppen, in diesem Jahr waren es die belgischen Häftlinge, im vorigen Jahr die Opfer der Endzeitverbrechen 1944/45 und im Jahr davor die ungarischen Juden, denen in besonderer Weise gedacht wurde.
In Israel ist der 27. Januar Holocaust-Gedenktag.
Ja, aber in Deutschland ist 1996 dieser Tag auf Vorschlag des damaligen Bundespräsidenten Roman Herzog und Ignaz Bubis, dem Präsidenten des Zentralrats der Juden ausdrücklich als ein Tag zum Gedenken an alle Opfer des Nationalsozialismus erklärt worden. Das war gerade Ignatz Bubis, der eine hohe Sensibilität für die Empfindungen anderer Opfergruppen hatte, ein ernstes Anliegen. Ich bin dankbar, dass Bundestagspräsident Norbert Lammert diese plurale Offenheit des Opferbegriffes sehr bewusst ist. Und vor zwei Jahren sprach am 27. Januar im Bundestag der damals 95-jährige russische Schriftsteller Daniil Granin über die Leningrader Blockade und die dortige Hungerkatastrophe. Ich freue mich auch sehr, dass auf Betreiben des Präsidenten des Berliner Abgeordnetenhauses Ralf Wieland in der dortigen Gedenkstunde am 20. Januar ein Schwerpunkt auf dem Völkermord an den Sinti und Roma lag.
Die sowjetischen Kriegsgefangenen scheinen aber nach wie vor vergessen?
Diese nicht akzeptable Lücke wollen und müssen wir sicherlich schließen. Ein Schritt dazu war die Erklärung von Bundespräsident Joachim Gauck am 8. Mai vorigen Jahres in der Gedenkstätte Stukenbrok. In diesem Gedenkjahr 2016, in dem sich der Überfall auf die Sowjetunion zum 75. Mal jährt, wird die Ständige Konferenz der NS-Gedenkorte im Berliner Raum am 22. Juni eine Open-Air-Ausstellung an einem zentralen Ort in Berlin zeigen. Sie wird die wichtigsten Aspekte dieses antisemitisch und rassistisch motivierten Eroberungs- und Vernichtungsfeldzuges thematisieren. Zu den viele Millionen sowjetischen Opfern zählen nicht nur kriegsgefangene Soldaten und Offiziere, wie sie z.B. im Herbst 1941 im KZ Sachsenhausen zu Tausenden erschossen wurden. Vielmehr rotteten die deutschen Aggressoren die Bewohner ganzer Dörfer und Städte aus, überließen sie dem Hungertod, erschossen sie in Wäldern und brannten die Häuser nieder. Es ist an der Zeit, dass auch den Opfern der NS-Lebensraumpolitik im Osten ein Gedenkzeichen gewidmet wird.
Der Holocaust war lange vor der Wannsee-Konferenz von 1942 in den okkupierten Gebieten der Sowjetunion im Gange.
Spätestes im Hochsommer 1941 gingen immer mehr deutsche Einsatzgruppen dazu über, in Abstimmung und mit der Hilfe deutscher Wehrmachtseinheiten jüdische Männer, Frauen und Kinder unterschiedslos grausam zu ermorden. Diese Entwicklung ist zu einem großen Teil bekannt. Dagegen wird der Massenmord an Slawen selbst heute noch eher als eine Folge des Eroberungskrieges angesehen, als eine Art «Kollateralschaden» verharmlost. Was in der Geschichtswissenschaft größtenteils unumstritten ist, nämlich dass der Krieg gegen die Sowjetunion ein lange geplanter Feldzug zur Ermordung von vielen Millionen Menschen war, sollte Teil eines breiten gesellschaftlichen historischen Bewusstseins werden. Deshalb werden wir dieses Jahr in den Gedenkstätten einen Schwerpunkt darauf legen. Gerade in einer Zeit zunehmender Renationalisierungen und ernsthafter Konflikte zwischen europäischen Staaten, zwischen Russland und westlichen Staaten und nicht zuletzt mit Polen, den baltischen Ländern und der Ukraine, müssen die Gedenkstätten ein wachsames Auge darauf haben, dass Geschichte nicht instrumentalisiert wird, um gegenseitige Vorbehalte und Vorurteile durch den Rekurs auf Geschichte anzufachen und zu schüren.
Wie verhielt es sich wirklich mit dem Tod von Stalins ältestem Sohn im KZ Sachsenhausen?
Der Tod von Jakow Dschugaschwilli ist relativ gut erforscht und unstrittig, weil zwei historische Quellen völlig unterschiedlicher Provenienz weitgehend übereinstimmen, nämlich die Berichte einer Untersuchungskommission des Reichssicherheitshauptamtes mit den Zeitzeugenberichten von britischen Häftlingen, die mit Stalins Sohn zusammen in der gleichen Baracke inhaftiert waren und den Hergang genau beobachten konnten.
Die SS hat Stalins Sohn verhöhnt. Die Nazis waren durchaus bereit, ihn auszutauschen, z.B. gegen Generalfeldmarschall Paulus. Stalin wollte das aber nicht. Er sagte, er habe keinen Sohn mehr. Das hat Jakow Dschugaschwilli verständlicherweise sehr deprimiert. Am 14. April 1943 ging er am elektrischen Stacheldrahtzaun entlang, auf einen SS-Mann zu und sagte: «Du bist ein Feigling. In meiner Heimat hätte man jetzt geschossen.» Daraufhin nahm der SS-Mann das Gewehr von der Schulter und schoss. Jakow fiel in den elektrisch geladenen Stacheldraht.
Der Tod von Stalins Sohn war eine Verquickung von Selbstmord und Mord. Er forderte sein Ende heraus. Das ist tragisch.
Tragisch ist auch, dass sowjetische Kriegsgefangene nach der Befreiung aus deutschen Konzentrationslagern gleich in Stalins Lager «wanderten».
Neuere Forschungen legen eine Zahl von mindestens 15 Prozent nahe, die vom KZ in den Gulag verschleppt wurden. Die Deportation in den Gulag betraf vor allem Offiziere und einige Mannschaftsgrade. Viele einfache Soldaten sowie die sowjetischen Zwangsarbeiter und KZ-Häftlinge mussten jedoch zumeist sogenannte Filtrationslager durchlaufen, wie sich eines auch in Sachsenhausen befand. Dort befragte der sowjetische Geheimdienst, vor allem der Anti-Spionagedienst Smersch, die von den Deutschen aus der UdSSR verschleppten Menschen, um angebliche Kollaborateure oder Spione ausfindig zu machen.
Das ist schlimm genug – vom KZ in den Gulag. Für mich beschämend aber: Die Veteranen der Roten Armee oder die ehemaligen KZ-Häftlinge kommen zu uns in großer Dankbarkeit, preisen die Deutschen, die ihnen Entschädigung zahlen, und schimpfen auf ihren eigenen Staat: «Bei euch haben wir so viel Jahre gesessen, bei uns noch mal so viele. Und die Unsrigen geben uns nichts.» Das ist natürlich für uns schwer auszuhalten, wissend um die Dimensionen deutscher Verbrechen und die lange Zeit, die es gedauert hat, bis endlich Entschädigungen für Zwangsarbeiter und KZ-Häftlinge gezahlt wurden.
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