Die Opferrolle ablegen

Im Kino: «Suffragette» von Sarah Gavron

  • Alexander Isele
  • Lesedauer: 4 Min.

Sollten wir Frauen das Wahlrecht geben, führt das zum Verlust der sozialen Struktur. Frauen werden sehr gut von ihren Vätern, Brüdern und Ehemännern vertreten.« Applaus begleitet Zitate aus Reden im englischen Parlament zu Begin von »Suffragette«. Sie sind nur zu hören, das Bild zeigt den tristen Alltag der Arbeiterinnen in einer Wäscherei im Londoner East End, der geprägt ist von harter, gesundheitsschädigender Arbeit und sexueller Erniedrigung - Hintergrund der Erzählung über diesen revolutionären Moment der Geschichte.

Die Regisseurin Sarah Gavron und Drehbuchautorin Abi Morgen (u. a. »Die eiserne Lady«) zeigen eine eher unbekannte Seite der englischen Suffragetten Bewegung - so nannte man ab 1900 die Kämpferinnen für das Frauenwahlrecht, abgeleitet von »suffrage«, Wahlrecht, und keinesfalls positiv gemeint - am Vorabend des Ersten Weltkrieges: Nachdem 50 Jahre friedlicher Protest nichts gebracht hat, nahm der Kampf zunehmend militante Züge an. Auch, weil sie die Opferrolle nicht mehr akzeptieren wollten und konnten. Der Film fokussiert nicht auf die großen Persönlichkeiten der Bewegung, Emmeline Pankhurst (Meryl Streep), taucht nur in einer Szene auf, Emily Wilding Davison (Natalie Press) erst am Ende. Stattdessen wird die Geschichte anhand des Schicksals einer einfachen Arbeiterin erzählt, die in Schlüsselmomenten den Weg historischer Persönlichkeiten kreuzt.

Es ist ein Zufall, den Maud Watts (Carey Mulligan), Arbeiterin in der Wäscherei, dazu bringt, vor dem Parlament Zeugnis über ihre Arbeitsbedingungen abzulegen. Ohne dass sie etwas dazu tut, findet sie sich im Epizentrum eines Kampfes wieder, dem mit Gewalt, Gefängnis und Schlimmeren begegnet wird. Indem die Polizei die modernsten Überwachungsmethoden der damaligen Zeit gegen einfache Angestellte anwendet. Bei der Inspektor Steed (Brendan Gleeson) anordnet, Frauen anstatt ins Gefängnis zu stecken ihren Männer zu übergeben, da diese »sich schon um sie kümmern« werden.

Der Film lebt von Mulligans Schauspielerei, die minimalistisch ist, ohne große Gesten auskommt. Es ist ihr Gesicht, das fesselt, das ihre innere Zerrissenheit, den inneren Kampf, den sie führt, sichtbar macht. Sie erwischt den Besitzer der Wäscherei, wie er sich an einer zwölfjährigen Angestellten vergreift. Von ihm gestellt, zeigt sie keine Regung; keine Falte, kein Zucken verzerrt ihr Gesicht, nur kurz hebt sich die Oberlippe, als sie diese mit ihrer Zunge befeuchtet. Ihre Augen schauen angestrengt nach vorne, ohne dass sie es sich bewusst ist, führen ihre Hände die Arbeitsschritte aus, falten präzise die schneeweiße Wäsche.

Und doch wird in ihrem maskenhaften Gesicht alles sichtbar: ihre eigene Erfahrungen mit ihm. Ihre Angst vor ihm und um ihre Familie, die an ihrem Engagement für die Frauenbewegung zu zerreißen droht. Die Unterordnung, die sie als Frau ihr Leben lang erfahren hat und die ihr doch noch nie so bewusst war, wie in diesem Moment. Und ohne, dass sich etwas in ihrem Gesicht abzeichnet, weiß man, dass für sie alles auf der Kippe steht. Sie, die liebende Mutter, die alles für ihren Sohn macht - alleine, im Privaten, ist sie stark genug, alles zu ertragen. Aber es geht nicht mehr nur um sie.

Der Film verbindet eindrucksvoll sozioökonomische Details mit häuslichem Drama, aufgehängt an Mauds Charakter, der als Anker die kollektive Unterdrückung festhält, deren individuelle Auswirkungen von Mulligan eindringlich dargestellt werden. Unterstützt wird sie dabei von Helena Bonham Carter, die eine Apothekerin spielt, der aufgrund ihres Geschlechts ihre eigentliche Berufung zur Ärztin verwehrt wurde, und Anne-Marie Duff, die eine widerspenstige Arbeiterin spielt, die in Maud eine Mitkämpferin sieht und in die Bewegung hineinzieht.

»Wir sollen Recht und Gesetz respektieren? Dann machen Sie das Gesetz respektabel!«, fordert Pankhurst in einer Szene vor ihren Anhängerinnen und legitimiert die Gewalt, die darauf zielt, das Gesetz zu ändern, nicht es zu brechen.

Das Ensemble brillanter Schauspielerinnen gibt Gelegenheit, darüber nachzudenken, was noch alles passieren muss beim Thema Gleichberechtigung. Denn auch über 100 Jahre später ist noch längst nicht alles gut.

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