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Ein unerträgliches Buch
»Feuerdörfer« wurde endlich übersetzt und hat den Preis der Leipziger Buchmesse gewonnen
Es ist unmöglich, dieses Buch in einem Rutsch zu lesen. Wie einen Roman oder ein Sachbuch, in das man sich hineinbegibt, um in andere Welten einzutauchen. Bei »Feuerdörfer« braucht man mehrere Anläufe und ausgedehnte Pausen. Immer wieder will man die Lektüre abbrechen, eintauchen will man in diese Welt nicht, als die deutsche Wehrmacht 1941 die Sowjetunion überfiel. Die Grausamkeiten sind zu überwältigend, der Schrecken ist erschlagend. Deswegen soll an dieser Stelle auch nicht im Detail wiedergegeben werden, auf welche Weise die Menschen in Belarus von Strafkommandos der Wehrmacht oder der SS ermordet und in Häusern oder Scheunen verbrannt wurden.
Dass dieses Buch nun erstmals auf Deutsch erscheinen kann – 50 Jahre nachdem es trotz anfänglicher Vorbehalte der sowjetischen Zensurbehörden in Minsk veröffentlicht worden ist –, ist ein Ereignis. Der Übersetzer Thomas Weiler hat eine enorme Leistung vollbracht und dafür zu Recht am Donnerstag den Übersetzerpreis der Leipziger Buchmesse 2025 erhalten. Das gilt für die psychische Anstrengung, der es bedarf, eine Sprache für das Unsagbare zu finden, und für die Herausforderung einer komplexen dialektalen Vielfalt im Belarussischen, die diese versammelten Zeitzeugenberichte mit sich bringen. In einem Werkstattbericht für das Toledo-Programm des Deutschen Übersetzerfonds, den man online findet, gibt Weiler spannende Einblicke in die Entstehungsgeschichte des Buches und in seine Arbeit an dem Buch.
Wer dies einmal gelesen hat, muss für immer damit leben.
Die Autoren Ales Adamowitsch, Janka Bryl und Uladsimir Kalesnik waren zwischen 1970 und 1973 durch Belarus gereist und hatten 147 Ortschaften besucht, wo sie 300 Gespräche führten und aufzeichneten. Sie sprachen mit Überlebenden und Zeugen aus den verbrannten Dörfern. Als Strafaktion gegen Partisanenangriffe hatten die NS-Besatzer zwischen 1941 und 1944 über 9000 Dörfer und Siedlungen zerstört, die Einwohner auf bestialische Weise umgebracht. Der Film »Komm und sieh« von Elem Klimow aus dem Jahr 1985 verarbeitet die Verbrechen mit den Mitteln des Kinos.
Auch heutzutage, wo drastische Gewaltdarstellungen Alltag sind, sind die emotionale Wucht und Schonungslosigkeit dieses Films unerreicht. Adamowitsch, der wie die anderen Autoren des Buches selbst als Partisan im Widerstand gekämpft hatte, hatte das Drehbuch zu dem Film geschrieben, basierend auf den Berichten aus »Feuerdörfer« und seinen eigenen Erfahrungen. Er war getrieben von der Idee, den Krieg zu erzählen, wie er ist – ohne Heldenpathos und falsche Hoffnungen. Er suchte nach einer Möglichkeit, denen, die Unsagbares erlebt hatten, eine Stimme zu geben. Die einfachen Menschen und ihre allzu wahrhaftigen Geschichten waren nicht Teil der offiziellen Sowjetideologie in Literatur und Kunst, wo der Sieg über den Faschismus glorreich und glänzend sein musste. Der Sowjetmensch durfte kein Opfer sein. Das menschliche Leid in all seinen Schattierungen hatte dort kaum Platz.
Zusammen mit Janka Bryl und Uladsimir Kalesnik transkribierte Adamowitsch die Gespräche mit den Zeitzeugen und montierte sie zu einer vielstimmigen Collage von Leid und Schrecken, ohne Rücksicht auf Redundanzen oder unlogische Verästelungen. Die Erzählungen sollten so unmittelbar sein, wie sie aus dem Gedächtnis der Menschen flossen. »Wir sahen unsere Aufgabe darin«, heißt es im Vorwort, »den unerträglichen Grad des menschlichen Schmerzes, der Fassungslosigkeit und des Zorns, die sich nicht allein in Worten zeigen, sondern auch in Stimmen, Augen und Gesichtern im Zustand des Plasmas zu bewahren und zu erhalten; all das zu erhalten, was den Menschen, der mit uns sprach, umgab wie die Luft, den Menschen, der sich nun auf den Seiten dieses Buches an den Leser wendet, an Sie.« Als das Buch erschien, löste es in der sowjetischen Gesellschaft eine Erschütterung aus. »Dieses Buch zu lesen, fällt schwer. Unerträglich schwer«, schrieb der Literaturkritiker Lasar Lasarew. »In dieser Art und Weise hatte noch niemand über den Krieg gelesen«, sagt die belarussische Literaturnobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch. »Feuerdörfer« und damit auch Ales Adamowitsch haben ihre Dokumentarprosa entscheidend geprägt. »Dieses Buch hat kein Alter«, schreibt Valzhyna Mort, eine der bekanntesten zeitgenössischen Lyrikerinnen aus Belarus. »Die Wirkung ist so total, dass ich sie gar nicht als solche begreife. Wenn man dieses Buch einmal gelesen hat, muss man für immer damit leben.«
Warum hat es ein halbes Jahrhundert gedauert, bis dieses wichtige Buch auf Deutsch erscheinen kann? Warum ist eine Übersetzung nicht bereits zur Zeit der DDR veröffentlicht worden? Die Slawistin Nina Weller ist diesen Fragen nachgegangen und hat herausgefunden, dass beim Verlag Volk und Welt bereits 1974 eine entsprechende Übersetzung zur Diskussion stand. Lag es eventuell an den drastischen Gewaltdarstellungen, dass man sich gegen eine Übersetzung entschied? »Der Gutachter zeigte sich allerdings wenig ergriffen«, schreibt Weller in einem Beitrag für ein Special des Online-Magazins dekoder.org: »Er störte sich vor allem am kompilatorischen monotonen Charakter der Zeugenstimmensammlung und an den subjektiven Wahrnehmungen der einfachen Leute. Die Kommentare der Autoren seien zu wenig analytisch und zu sehr von einem didaktischen, pathetischen Gestus getragen – letzterer Kritikpunkt hatte das Buch seit seiner Ersterscheinung tatsächlich begleitet.«
Seine Wirkungsmacht, die auch die Entwicklung einer neuen Erinnerungskultur in der Sowjetunion und später auch die Arbeit der Menschenrechtsorganisation Memorial bis zu ihrem Verbot in Putins Russland 2022 prägte, konnte das Buch dennoch schon früh entfalten. Allerdings nur, indem die Autoren inhaltliche Konzessionen gegenüber der offiziellen Ideologie in der Sowjetunion machten. Denn der Holocaust, der die reiche jüdische Kultur in Belarus vernichtete, kommt in den Berichten so gut wie nicht vor. Auch brenzlige Themen wie das der Kollaboration oder die Verbrechen der Partisanen gegenüber der eigenen Bevölkerung werden ausgespart. Dennoch ist »Feuerdörfer« ein bedeutendes historisches Dokument und ein Schlüsseltext, der in die Reihe von Alexander Solschenizyns »Archipel Gulag«, Wassili Grossmans »Leben und Schicksal« oder »Das Blockadebuch« von Daniil Granin und Ales Adamowitsch gehört. Und es ist – leider, möchte man sagen – ein sehr aktuelles Buch.
Ales Adamowitsch/Janka Bryl/Uladsimir Kalesnik: Feuerdörfer. Wehrmachtsverbrechen in Belarus – Zeitzeugen berichten. A. d. Belaruss. v. Thomas Weiler. Aufbau, 587 S., geb., 39 €.
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