»Dauerhafte Armut von Menschen können wir uns nicht leisten«
Der Sozialexperte Eric Seils warnt vor einem Herausfallen einkommensschwacher Haushalte aus der Gesellschaft
Bertolt Brecht hat einst in einem Gedicht einen armen und reichen Mann aufeinandertreffen lassen. Der Arme sagte da: »Wär ich nicht arm, wärst du nicht reich.« Passt dieser Satz auch noch auf die heutige Zeit?
Zumindest gibt es nicht mehr diese absolute Armut wie in den 1930er Jahren, als Brecht dieses Gedicht geschrieben hat. Damals hatten viele Kinder auf Grund von Rachitis verbogene Kochen und nicht genügend zu essen. Es ging damals ums Überleben. Darum geht es heutzutage glücklicherweise nicht mehr.
Aber es gibt noch Armut.
Ja. Dabei handelt es sich aber vor allem um relative Armut. Wenn man etwa in Köln an Wohnblocks vorbei fährt, in denen 70 Prozent der dort lebenden Kinder auf Hartz IV angewiesen sind, dann weiß man, dass sie in Armut aufwachsen müssen.
Eric Seils ist Sozialexperte des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung. Mit ihm sprach Simon Poelchau über die unterschiedlichen Armutsdefinitionen und die Folgen von Armut für die Gesellschaft.
Wie definieren Sie Armut?
Laut EU-Definition gilt heutzutage als arm, wer 60 Prozent des am Bedarf gewichteten mittleren Einkommens in einem Land zur Verfügung hat. Für eine Einzelperson sind dies in Deutschland derzeit 917 Euro, für eine klassische Familie mit zwei Kindern 1926 Euro. Menschen unterhalb dieser Grenze sind finanziell nicht mehr in der Lage, wirklich am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. Sie fallen aus der Mainstream-Gesellschaft heraus, weil ihnen das Geld für Kino und Co. fehlt.
In Griechenland ist die so gemessen Armut während der Krise teilweise gesunken, weil die Gesellschaft insgesamt verarmte. Birgt diese Definition also nicht auch Mängel?
Griechenland ist in der Tat ein Extremfall, bei dem die Schwachstellen dieser Definition zu Tage treten. Aber ansonsten ist diese Einkommensarmutsgrenze sehr gut und insbesondere in Deutschland ein brauchbares Konzept. Schließlich gibt es auch so hierzulande vor allem unter Kindern, Rentnern und Arbeitslosen eine viel zu große Armut.
Dabei gibt es auch noch andere Armutsdefinitionen. Zum Beispiel die der »materiellen Deprivation«, wenn sich Menschen etwa nur alle zwei Tage eine vollwertige Mahlzeit oder sich im Winter keine warme Wohnung leisten können.
Statistisch gesehen liegen diese beiden Armutsdefinitionen nicht weit auseinander. Wer als einkommensarm gilt, kann sich häufig eben zum Beispiel nur alle zwei Tage eine vollwertige warme Mahlzeit leisten. Zudem weist auch letztere Armutsdefinition einige Mängel auf.
Welche wären dies?
Man wird nie eine vollständige Liste bekommen, was notwendig ist, um nicht als arm zu gelten und nicht von der Mainstream-Gesellschaft abgehängt zu werden. Man wird sich auch nie einigen können, was absolut notwendig ist. Gehört etwa täglich eine vollwertige warme Mahlzeit dazu, aber ein Internetanschluss nicht? Wir leben nicht mehr in den 1930er Jahren. Insofern hat sich auch der Armutsbegriff geändert.
Geht es dann letztlich nicht auch um eine Verteilung des Reichtums?
Natürlich. Auch in einem reichen Land wie Deutschland können viele Menschen arm und aus dem gesellschaftlichen Leben herausgefallen sein. Diese dauerhafte Armut von Menschen können wir uns nicht leisten.
Welche Folgen hat dies Armut für die Gesellschaft und die Menschen hierzulande?
Der Ton wird rauer. Man kann sich auf Kosten der Abgehängten mehr erlauben. Denn genau jene Personen gehen seltener zur Wahl. Deswegen hat die Politik auch keinen Anlass, deren Interesse zu berücksichtigen. Ganz individuell schlägt sich die Armut bei den Menschen in ihrer Gesundheit und ihren Bildungserfolgen nieder.
War die Einführung des Mindestlohns Anfang 2015 da nicht ein Schritt in die richtige Richtung?
Der Mindestlohn kann sicherlich einen Beitrag zur Armutsbekämpfung leisten. Insofern ist er eine gute Sache. Doch auch mit Mindestlohn können Menschen unter die Armutsgrenze rutschen - etwa wenn sie damit eine Familie ernähren müssen.
Wie könnte man zumindest diese Form der Armut bekämpfen?
Man müsste den Kinderzuschlag endlich richtig anheben. Dieser Zuschlag zum Kindergeld wurde bereits 2005 mit den Hartz-Gesetzen eingeführt, um zu verhindern, dass Menschen trotz Arbeit wegen ihrer Kinder auf Hartz IV angewiesen sind. Man hat den jedoch nie an die wirtschaftliche Entwicklung angepasst. Die jetzt vorgesehene Erhöhung um 20 Euro ist ein Trauerspiel. Wenn man da eine Schippe drauf legt, dann wäre dies eine sehr billige und sehr gute Maßnahme, weil sie direkt die Lebensverhältnisse der Menschen verbessert.
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