An der Grenze des Erträglichen
Im griechischen Dorf Idomeni warten Tausende Flüchtlinge auf die Weiterreise
»Öffnet die Grenze!«. Die Forderung der etwa 11 000 Geflüchteten, die im griechischen Grenzdorf Idomeni festsitzen, ist einfach und deutlich. Sie steht auf Hunderten Zelten, die ihre temporäre Unterkunft bilden, und sie ist der Tenor der meisten Gespräche, die man hier führt. Momentan sind es vor allem Geflüchtete aus Syrien und Irak, die hier unter katastrophalen Bedingungen und in Ungewissheit ausharren. Über das System, mit dem täglich wenige hundert Menschen ausgewählt werden, die über Mazedonien weiterreisen können, kursieren verschiedenste Gerüchte.
Jede und jeder versucht, etwas über die Vorgehensweise der hiesigen Behörden wie auch über die politischen Entscheidungen auf EU-Ebene herauszufinden, die Effekte auf ihre Situation haben könnten. Klar scheint lediglich, dass ein syrischer Pass hier zu den Kriterien gehört, die die Chance zumindest minimal erhöhen, die Grenze zu passieren. Die Spekulation über die Bedeutung verschiedener Nummern und Stempel auf den Papieren der griechischen Behörden führt bei manchen zu zynischen Kommentaren, bei anderen liegen die Nerven blank.
»Hätten wir gewusst, was uns hier erwartet, wären wir nicht aufgebrochen«, kommentiert Saida, eine Lehrerin aus Syrien, die Situation, und fügt hinzu: »Das ist schlimmer als der Krieg.« Seit 13 Tagen sei sie nun hier. Auch wenn das Fehlen einer nutzbaren Dusche und der Mangel an Nahrung nicht ihr zentrales Problem darstellten, seien die unwürdigen und erniedrigenden Bedingungen kaum auszuhalten. Die Versorgung mit Lebensmitteln, die von NGOs und unabhängigen Initiativen gestellt wird, reicht in Idomeni kaum aus.
»Für ein Sandwich, das weder mich noch meine Kinder satt macht, muss ich vier Stunden lang anstehen«, berichtet Mohammed. Er besorgt sich daher wie viele hier eigenständig Kartoffeln und andere Lebensmittel, die er über dem Feuer gart. Auch wenn es mit der Zeit immer schwerer wird, hat er sein Ziel klar vor Augen: »In Deutschland studieren, die Sprache lernen, wieder ein normales Leben führen.« Die gesundheitliche Situation seines fünf Monate alten Kindes ist stabil, was jedoch unter den gegebenen Umständen keine Selbstverständlichkeit mehr ist. Das Kind seiner Nachbarn wurde auf der Reise in der Türkei angefahren und erholt sich seitdem kaum davon. Das Schlafen bei Temperaturen von knapp über null Grad, der Mangel an Ruhe, Nahrungsmitteln und medizinischer Versorgung verhindern eine Genesung des Vierjährigen. Hustende und weinende Kinder sind im Camp allgegenwärtig. Die Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen behandelte in den vergangenen Tagen über 700 Menschen und bezeichnete die Situation als untragbar. Die meisten Gesundheitsprobleme seien eine direkte Folge der unzureichenden hygienischen Bedingungen und der fehlenden Unterkünfte.
Auf Sträuchern und dem Stacheldraht des Grenzzauns ist noch Wäsche zum Trocknen aufgehängt, als sich bereits das nächste Gewitter ankündigt. Auf dem offenen Feld sind der Regen und der ihm folgende Schlamm besonders bedrohlich. Gegen Abend strömen die Menschen in die Wälder, um Holz für Feuer zu sammeln, an dem sich einigermaßen gewärmt werden kann. Viele versuchen, in dem Chaos ein Stück Normalität herzustellen. Durch das gegenseitige Rasieren, das Sauberhalten der Zelte und das Spielen von Musik. Letztere sei viel besser als Religion, kommentiert Serhad, Vater dreier Söhne, die auf der mitgebrachten Saz, einem elektrisch verstärkten Saiteninstrument, ein Lied über Kobane spielen und dazu singen. Wie viele hier berichten sie über die Konflikte in ihrem Herkunftsland, über Krieg und Verfolgung, und immer wieder über den Terror von Daesh, dem Islamischen Staat.
Immer wieder kommt es bei Durchfahrt von Zügen zu Tumult, hin und wieder werden Gleise besetzt. In einem sind alle sicher: Sofern es keine baldige politische Lösung für die Situation gibt, wird es zu Unruhen kommen, dessen Ausmaß kaum absehbar ist. Da mit einer Verringerung des Zustroms der Zehntausenden, die in Griechenland festsitzen, nicht zu rechnen ist, bleibt die Forderung »Open the Borders« realistisch.
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