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Der weibliche Blick in die Hölle

Die britische Journalistin Sarah Helm hat ein Buch über das Frauenkonzentrationslager Ravensbrück geschrieben

Sie ahnten nicht, welche Hölle sie erwartete - die Frauen, die am Bahnhof Fürstenberg an der Havel aus den Viehwaggons stiegen und dann unter dem Gebrüll der SS und unter dem Gekläff der Schäferhunde zu einem kleinem Dorf namens Ravensbrück gejagt wurden. Manche glaubten, sie seien an einer Küste gestrandet. Es roch nach See, der Wind schmeckte salzig. Sie spürten Sand unter ihren Füßen. Die idyllische brandenburgische Landschaft ließ das ihnen bevorstehende Grauen nicht ahnen.

Auch Sarah Helm kommt ins Schwärmen, wenn sie über ihre Stippvisiten nach Ravensbrück berichtet. Der betörende Duft der Kiefernwälder und die majestätisch auf dem Schwedtsee segelnden Schwäne haben es ihr angetan. Erstmals besuchte sie Ravensbrück im Winter 2006. Über das zugefrorene Gewässer konnte sie den fernen Fürstenberger Kirchturm erblicken. Die Britin besuchte die Gedenkstätte des Frauenkonzentrationslagers.

Auf dieses war sie während der Recherchen für ihr Buch über Vera Atkins gestoßen, im Zweiten Weltkrieg Offizierin des britischen Geheimdienstes Special Operation Executive (SOE). Nach dem Krieg hatte jene sich auf die Spuren ihren verschollenen Agentinnen begeben, die mit dem Fallschirm über dem deutsch-besetzten Frankreich abgesprungen waren, um die Résistance zu unterstützen und in die Fänge der Gestapo geraten sind.

Sarah Helm hat inzwischen ein neues Buch geschrieben, wesentlich umfänglicher als »A Life in Secrets. The Story of Vera Atkins and the Lost Agents of SOE«. Als sie es jüngst in Berlin vorstellte, schaute sie in der Redaktion des »neuen deutschland« vorbei. Wir entdecken, dass wir einiges gemeinsam haben. Nicht nur den gleichen Beruf, auch die gleiche Vorwortschreiberin: Bärbel Schindler-Saefkow, Tochter der Ravensbrückerin Aenne und des von den Nazis ermordeten Widerstandskämpfers Anton Saefkow. Sarah Helm verdankt ihr viele wertvolle Hinweise, vor allem Namen und Adressen.

Die britische Journalistin erzählt mir, in ihrer Heimat wisse man so gut wie nichts über Ravensbrück. Man kenne Auschwitz, auch Dachau und das KZ Bergen-Belsen, das von der Royal Army befreit wurde, allenfalls noch Buchenwald. Obwohl in Ravensbrück, wie ein britischer Nachkriegsermittler formulierte, »die Creme der Frauen Europas« inhaftiert war. Er meinte nicht nur Odettte Churchill, eine Verwandte des britischen Premiers, und Geneviève, die Nichte des französischen Generals Charles de Gaulle, sondern auch polnische Gräfinnen und Gemma La Guardia Gluck, die Schwester des New Yorker Oberbürgermeisters Fiorello.

Ich ergänze: »Und Margarete Buber-Neumann.« Sarah Helm nickt. Der Frau des in der Sowjetunion erschossenen KPD-Funktionärs Heinz Neumann, die 1940 von Stalin an Hitler ausgeliefert, aus einem Gulag in kasachischer Steppe nach Ravensbrück kam, hat sie ein eigenes Kapitel gewidmet, überschrieben mit »Stalins Geschenk«. Auch Olga Benario, die Frau des legendären brasilianischen Revolutionärs Luís Carlos Prestes, ist nicht vergessen. Die deutsche Kommunistin und Jüdin wurde 1942 von Ravensbrück zur Ermordung in die »Euthanasie«-Anstalt Bernburg gebracht.

Helms Buch kann ich erst nach unserem Treffen lesen; die deutsche Übersetzung ist frisch aus der Druckerei gekommen, der Titel ein anderer als im englischsprachigen Original: »If this is a women«. Die britische Journalistin nahm Anleihe bei Primo Levi: »Denket, ob dies eine Frau sei,/ Die kein Haar mehr hat und keinen Namen,/ Die zum Erinnern keine Kraft mehr hat,/ Leer die Augen und kalt ihr Schoß/ Wie im Winter die Kröte./ Denket, daß solches gewesen./ Es sollen sein diese Worte in eurem Herzen.« Der Auschwitz-Überlebende wollte mit diesen Zeilen die Erinnerung an alle Frauen beschwören, die in faschistischen Kerkern und Lagern erniedrigt, gequält, geschlagen, ermordet worden sind. Seine Mahnung verhallte, Frauenleid und Frauenwiderstand unterm Hakenkreuz blieb im Nachkriegseuropa vielfach unbeachtet. Oder: wie der französische Literaturnobelpreisträger und Résistancekämpfer Francois Mauriac schrieb, Ravensbrück war »ein Gräuel, das die Welt zu vergessen entschlossen ist«.

Darüber empört, hat sich Sarah Helm an die grandiose Arbeit gemacht. Enttäuscht ebenso darüber, dass - wie sie bald feststellte - »die meisten Publikationen über Ravensbrück von Männern, von Mainstreamhistorikern verfasst worden sind«. Mit Gender-Forschung habe sie aber nichts am Hut, betont sie.

Als DDR-Bürgerin wundere ich mich ob des totalen Unwissens über das einzige Frauenkonzentrationslager der Nazis in Großbritannien. Meine Gesprächspartnerin korrigiert mich: Nicht nur in ihrer Heimat, auch in Frankreich sei dieses KZ ein weißer Fleck. Obwohl 8000 Französinnen, vornehmlich Résistancekämpferinnen, dort litten. Aber warum? »Die Überlebenden sprachen nicht gern über ihre Erfahrungen in deutsch-faschistischer Gewalt«, erklärt Sarah Helm. Aus Hemmung und Scham, das erlebte Grauen bereitete ihnen noch Jahrzehnte danach Albträume. Und da war auch die Unwilligkeit der patriarchalischen Gesellschaft, den Frauen zuzuhören, über das Unrecht an ihnen zu reden. Wohl auch, weil es den eigenen Ehefrauen, Müttern, Schwestern und Töchtern geschah. »Für Machos wie die Franzosen schwer verkraftbar.« Es käme einem Eingeständnis eigener Ohnmacht gleich, die Frauen nicht beschützt zu haben. Es kursierten sogar Gerüchte, die Ravensbrückerinnen hätten sich willig deutschen Männern hingegeben. Das KZ ein Bordell.

Ebenso konnten die sowjetischen Ravensbrückerinnen ihre Geschichte lange nicht erzählen. Wie die Soldaten, die in Kriegsgefangenschaft gerieten, oder die zur Zwangsarbeit nach Deutschland Deportierten galten sie Stalin als »Verräter«. Sarah Helm berichtet von einem Prozess in Simferopol auf der Krim 1949. Fünf Rotarmistinnen, Ravensbrückerinnen, wurden wegen »Kollaboration« mit den Faschisten angeklagt; eine erhängte sich in ihrer Zelle, die übrigen wurden schuldig gesprochen und nach Sibirien verbannt. Als Sarah Helm eine Ravensbrückerin aus Odessa hierzu befragen wollte, wiegelte jene ab: »Finstere Geschichte.«

Die Rotarmistinnen waren in Ravensbrück gesondert untergebracht, konnten aber Kontakt aufnehmen zu den Kommunistinnen im Lager. Als sie im Herbst 1944 von der Ankunft Rosa Thälmanns, der Witwe des in Buchenwald ermordeten KPD-Vorsitzenden Ernst Thälmann, erfuhren, haben sie ihr einen Kuchen gebacken und diesen samt Blumen, stibitzt vom Grab der Hündin einer Aufseherin, heimlich zukommen lassen.

20 000 Sowjetbürgerinnen waren in Ravensbrück, nach den Polinnen (36 000) und den Deutschen die stärkste Häftlingsgruppe. Insgesamt durchliefen 130 000 Frauen fast aller Nationen Europas das KZ. Am 15. Mai 1939 waren die ersten 867 Frauen eingewiesen worden; im ersten Jahr waren es fast nur deutsche, Kommunistinnen und Zeuginnen Jehovas, Sinti und Roma sowie Menschen, die von den Nazis als »asozial« deklariert wurden: Prostituierte, Kriminelle, Obdachlose. Etwa zehn Prozent der Ravensbrückerinnen waren jüdischer Herkunft, weiß Sarah Helm und erwähnt eine weitere Bildungslücke ihrer Landsleute: »Man glaubt bei uns, Hitler schickte nur die Juden ins KZ.«

Die Britin, deren Vater im Krieg in der Normandie kämpfte und deren Mutter bei der Royal Navy diente, erläutert: »Als der Kalte Krieg begann, verschwand Ravensbrück hinter dem Eisernen Vorhang, der die Überlebenden trennte, die Geschichte des Lagers spaltete und marginalisierte.« Selbst in der DDR und anderen sozialistischen Staaten habe diese Stätte des Frauenleidens und Frauenwiderstands im Schatten der großen Konzentrations- und Vernichtungslager gestanden. »Ravensbrück wird häufig auch als Sklavenarbeitslager bezeichnet, was den Schrecken minimiert, denn auch die Zwangsarbeit beispielsweise für Siemens war eine Station auf dem Weg in den Tod.« Mindestens 30 000 Frauen starben dort. Die Historikerin Bärbel Schindler-Saefkow ermittelte für das Gedenkbuch von Ravensbrück namentlich über 13 000 Tote.

Mögen es in den einzelnen Ländern verschiedene Gründe gewesen sein, das Frauenkonzentrationslager nicht gebührend zu erinnern (darunter Antikommunismus), so waren es doch überall auch die gleichen. Welcher Mann erträgt es zu erfahren, wie seine Liebste gedemütigt wurde? Die Tortur begann bei der Ankunft. »Ausziehen!« herrschten die SS-Offiziere die verängstigten Neuankömmlinge an, um sich sodann an den splitternackten Frauenkörper zu ergötzen, hämisch zu lachen. Kann ein Mann den Verlust an Identität nachempfinden, als den Frauen und Mädchen eine Glatze zwangsgeschoren wurde? Und die Pein, wenn sie die Beine spreizen mussten, damit die Aufseherinnen unter den lüsternen Blicken der Männer die Schamhaare abrasierten? Sie kratzigen Drillich überstreifen und selbst die Fotos der daheimgebliebenen Liebsten abgeben mussten. Welcher Mann hätte erfahren wollen, dass seine Lebensgefährtin vergewaltigt worden ist? Und mit der Frucht eines Fremden, des Feindes, niederkam. Einer Frau rutschte beim Durchschreiten des Lagertors das Kind aus dem Schoß, berichtet Sarah Helm. »Eine andere bekam ihr Kind auf der Lagerstraße; sie verblutete.«

Neugeborene hatten kaum eine Überlebenschance. Sie wurden von der SS sofort ermordet; um Munition zu sparen, schlug man sie mit dem Köpfchen gegen eine Steinwand. Andere starben in den ersten Tagen nach ihrer Geburt, weil ihre Mütter sie nicht nähren konnten, keine Milch in ihre Brüste schoss bei karger Kohlsuppe. Und dennoch war es für die Frauen ein große Freude, wenn ein Kind geboren wurde. Sie hätschelten es und adoptierten es, wenn die leibliche Mutter verstarb oder in ein Außenlager transportiert wurde. Manche Kinder hatten in Ravensbrück sechs, sieben »Lagermütter«. Was weiß ein Mann von deren Qualen, wenn die Kleinen trotz ihrer Liebe verhungerten? »Kinder, die wie vier Jahre aussahen, waren acht, und Zwölfjährige sahen wie Achtjährige aus«, beschrieb eine Ravensbrückerin Sarah Helm das Elend.

Mit dem letzten großen Transport ungarischer Jüdinnen im Sommer 1944 erhöhte sich die Zahl der Kinder schlagartig. Für sie richten die Ravensbrückerinnen am 23. Dezember - von der SS angesichts des nahenden Kriegsende zähneknirschend gebilligt - eine kleine bescheidene Weihnachtsfeier aus, einmalig in Himmlers Lagerimperium. Ein Akt des Widerstandes. Sarah Helm berichtet in ihrem Buch auch über Sabotageaktionen in Rüstungsbetrieben und vielfache Lagersolidarität.

»Ja, Frauen leiden anders und sind leidensfähiger als Männer«, beantwortet sie meine Frage. Auch weiblicher Widerstand unterscheidet sich in gewisser Weise von dem der Männer. »Frauen sind oft couragierter und entschlossener.« Das hat sie die Arbeit am Buch über Ravensbrück gelehrt - an der ihre Töchter Jessica und Rosamund großen Anteil nahmen. Aber auch ihr Mann Jonathan.

Sarah Helm: Ohne Haar und ohne Namen. Im Frauen-Konzentrationslager Ravensbrück. Theiss. 802 S., geb., 38 €. Am 9. März, 18 Uhr, Vernissage einer Ravensbrück-Ausstellung am Franz-Mehring-Platz 1, 10243 Berlin, mit Dagmar Enkelmann; anschließend Gespräch mit Bärbel Schindler-Saefkow und Karlen Vesper.

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