Olymp und Hades
In Berlin fragen einen die unterschiedlichsten Menschen jeden Tag Dinge, einfach so auf der Straße. Nur selten kommt es vor, dass die Antworten von »die Mauer war da drüben« und »kannste behalten« abweichen. Und doch gibt es Momente, so häufig wie das Vorbeiziehen des Halleyschen Kometen, in denen man auf Gesprächswillige trifft, die eine Unterhaltung verheißungsvoll wie sonst nur Rotweinabende im »Name Ihrer Lieblingskneipe« beginnen.
Vor Jahren gammelte ich einmal auf dem S-Bahnhof Friedrichshagen herum, immerhin nicht grundlos, denn sehnsüchtig erwartete ich den Anschlusszug nach Erkner. Die S3 behält es sich zuweilen vor, nur alle 20 Minuten in den bedrohlichen Schlund des Köpenicker Forstes einzutauchen, um drei verlorene Seelen jenseits der Stadtgrenze auszuspucken.
Noch 17 Minuten, bis der Zug kommen sollte, da setzte sich wie aus dem Nichts ein Mädchen neben mich. Bunte Bommelmütze, Filzjacke aus einem dieser Goa-Goa-Filzläden und fragte: »Was macht Dich glücklich?« Mal abgesehen von Menschen, die unvermittelt auftauchen und einfach so drauf los duzen, schossen mir nur Ruhe und Einsamkeit durch den Kopf. Diesmal, so schwor ich mir, wollte ich mich jedoch nicht mit einer in dieser Situation angebrachten misanthropischen Scheiß-Antwort selbst langweilen. Ich wollte diesen Fabelhafte-Welt-der-Amelie-Moment bis zum Schluss auskosten und so antwortete ich, was damals auch stimmte: Liebe. Sie sprang sofort drauf an - und ich war verloren. In den nächsten 17 Minuten hörte ich mir einen Vortrag über ihren geplanten »Glücksblog« an. Der Rest interessierte sie nicht.
Nun, es sollte sechs Jahre dauern, bis sich eine ähnlich vielversprechende Straßenunterhaltung anbahnte. Am Bahnhof Alexanderplatz stürmten an einem hübschen Sommertag drei junge Mädchen auf mich zu und eine von ihnen fragte: »Entschuldigen Sie, wissen Sie, wo hier Olymp und Hades ist?« Als großer Fan griechischer Mythologie und jüngerer Menschen, die mich siezen, vermutete ich, die drei Schülerinnen wollen für ein Projekt in die heißesten stadtpolitischen Debatten einsteigen und von Einheimischen erfahren, wo die schönsten und die schrecklichsten Orte Berlins liegen. Eigentlich wollte ich also sagen: »Na wahrscheinlich am Müggelsee und am LAGeSo.«
Um mir aber einen Moment zu ersparen, der sich anfühlt, wie nach einem Sprung vom Dreimeterbrett nackt aus dem Becken zu steigen, weil man nicht mitbekommen hat, dass sich die Badehose verabschiedet hat, hielt ich kurz inne. Irgendetwas stimmte hier nicht. Berliner Schülerinnen würden nie mit »Entschuldigen Sie« auf einen zukommen. »Wie meint Ihr das denn?«, fragte ich zurück. »Na wir suchen den Klamottenladen«, antwortete eine.
Egal, welche Gespräche jetzt noch auf mich zukommen werden, meine Antwort wird stets lauten: »Die Mauer war da drüben.«
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