Film »Milchzähne«: Ein Mädchen steht im Walde

Der Film »Milchzähne« will uns die Gefahren eines postapokalyptischen Autoritarismus näherbringen

Sonst wird im deutschen Kino alles zu Tode erklärt. Hier würde man gerne ein bisschen mehr an die Hand genommen werden.
Sonst wird im deutschen Kino alles zu Tode erklärt. Hier würde man gerne ein bisschen mehr an die Hand genommen werden.

Will man die Errungenschaften einer Zivilisation veranschaulichen, ist es am einfachsten, ebenjene Gemeinschaft mit dem Fremden zu konfrontieren. Ziemlich schnell wird sich zeigen, dass das Neue auch immer mit der Angst vor Veränderung, mit Statusverlust einhergeht, weshalb Gesellschaften also im Kern konservativ sind. So oder so ähnliches will es uns der Film »Milchzähne« der schweizerisch-schwedisch-deutschen Regisseurin Sophia Bösch zeigen.

Als ein Mädchen (Viola Hinz) vor dem Haus von Skalde (Mathilde Bundschuh) und ihrer Mutter Edith (Susanne Wolff) auftaucht und sie dieses verbotenerweise bei sich aufnehmen, wird die hermetische und starre Gemeinschaft einer Siedlerbewegung jäh erschüttert. Die Menschen sind dem Aberglauben verfallen, dass es sogenannte Wolfskinder gibt, die Unheil verbreiten und denen nie ein Milchzahn ausfällt, weshalb die meisten Bewohner*innen Ketten mit ihren ausgefallenen Kinderzähnen wie eine Monstranz vor sich hertragen: Seht her, ich bin gut.

Weil Skalde und ihre Mutter nicht besonders linientreu sind, nehmen sie das Mädchen bei sich auf, weil es sie an ihr eigenes Schicksal erinnert. Spürt man zu Anfang zumindest noch ein wenig Solidarität unter den Frauen dieser Hinterwäldler-Community, die in einem fort Schnaps trinken, wird der Zusammenhalt zunehmend bröckelig, je mehr sich Skalde dagegen wehrt, das Mädchen mit dem Namen Meisis fortzuschicken.

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Es gibt Filme, denen es gelingt, das Unausgesprochene trotzdem nachvollziehbar und erlebbar zu machen und die gerade daraus ihre Faszination schöpfen oder ein Berührtsein hervorrufen. Ein Kunstwerk wie »The Quiet Girl« des irischen Regisseurs Colm Bairéad schafft es, tradierte zwischenmenschliche Codes in Gesten, Bilder, Bewegungen oder Blicke zu übersetzen, sodass man trotzdem nachvollziehen kann, wie sich die handelnden Figuren fühlen, auch ohne dass es – wie beispielsweise im deutschen Film üblich – eines Kommentars zur eben gezeigten Handlung bedarf (Holzhammerkino).

»Milchzähne« lässt einen aber auf eine unangenehme Art allein zurück, weil er es nur bedingt schafft, diese kryptische Welt, in der Skalde und Edith leben, verständlich zu machen. Warum ist das Verhältnis zwischen Mutter und Tochter so belastet, warum lebt diese Dorfgemeinschaft auf so archaische Weise zusammen, obwohl recht schnell klar ist, dass der Film nicht in einer weit entfernten Vergangenheit, sondern viel mehr in der Zukunft spielt? Was ist passiert, dass sie auf solch einfache Lebensformen zurückgeworfen wurden? Welche inneren Dynamiken prägen diese Hillbilly-Bewegung (abseits der enorm ausgeprägten Skepsis gegenüber Fremden)? All diese Fragen werden einem ohne Ideen, wie man es denn wenigstens andeuten könnte, vor die Füße geworfen, und so bleibt ein sehr distanziertes Verhältnis zu dem, was an Figuren und ihren Konflikten vor uns ausgebreitet wird.

Richtig gute Filme geben mit ihren bewusst gesetzten Leerstellen Zeit zum Nachdenken über das, was ein Leben ausmacht.

Richtig gute Filme geben mit ihren bewusst gesetzten Leerstellen Zeit zum Nachdenken über das, was ein Leben ausmacht, aber das gelingt diesem Film nur an ganz wenigen Stellen. Wenn beispielsweise klar wird, dass nicht jeder bereit ist, seinen Platz in der Gemeinde einzunehmen, dann steht damit auch der autoritäre Gesellschaftsentwurf dieser Diaspora zur Disposition. Aber was deren Regeln des Zusammenlebens eigentlich sind, wissen wir ja gar nicht. Sind diese Hinterwäldler eine Nazi-Aussteigergemeinschaft in einer islamistischen Europa-Dystopie (geklaut bei Michel Houellebecq) oder eine isolierte Umweltbewegung auf einem von der Klimakrise gebeutelten Planeten? Es wäre nicht zu viel an Orientierung, einem wenigstens das klarzumachen.

Ulrich Matthes spielt den Stammeshäuptling dieser Redneck-Gemeinde mit einer Holzschnittartigkeit, die man einem Schauspieler seines Formats nichts zutrauen würde und die befremdlich wirkt, weil sie so krasse Schwächen im Drehbuch offenbart, das ihn Sätze sagen lässt wie: »Um wieder Teil von uns zu werden, muss er seine gerechte Strafe erhalten.«

Insgesamt also taugt der Film überhaupt nicht als Allegorie auf eine Welt von heute und ihre Tendenzen zum Isolationismus oder auch Faschismus. Alles, was wir erfahren, ist, dass starre, oppressive Gesellschaftsstrukturen schlecht sind, weil sie unmenschlich sind und die Errungenschaften aller freiheitlichen Demokratien negieren. Diese Angst vor dem Autoritarismus der Masse haben Folk-Horrorfilme wie »The Village – Das Dorf« (2004) oder das preußische Sittengemälde »Das weiße Band« (2009) wesentlich detailreicher und mit einer enormen Präzision in den Charakterzeichnungen der Protagonist*innen viel besser seziert.

»Milchzähne«, der auf dem gleichnamigen Roman der jungen Berliner Autorin Helene Bukowski basiert, ist ein schwer zu greifender Film, weil er sich eigentlich jeglichem Zugang versperrt. Weder über die Figuren noch über die Handlung bekommt man eine Idee davon, was uns gezeigt werden soll, weil nahezu jeder Aspekt der Geschichte abstrahiert oder nicht zu Ende erzählt wird. Wenn also die Unzugänglichkeit zur Pose erhoben wird, dann ist es schlicht und ergreifend kein guter Film.

»Milchzähne«, Deutschland/Schweiz 2024. Regie und Drehbuch: Sophia Bösch. Mit: Mathilde Bundschuh, Susanne Wolff, Viola Hinz. 97 Minuten, Start: 21.11.

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