Neue Melange nach hundert Jahren
»Vom Jüngsten Tag« - Peter Hinke hat ein Lesebuch des Kurt Wolff Verlages der Jahre 1913 bis 1919 zusammengestellt
Zu den besonderen Buchreihen des vergangenen Jahrhunderts gehört zuförderst die 1913 vom Kurt Wolff Verlag in Leipzig aufgelegte Schriftenreihe »Der jüngste Tag«, die vornehmlich von Franz Werfel und Max Brod betreut wurde und bis 1921 bestand. In seinen 1965 im Klaus Wagenbach Verlag erschienenen Erinnerungen beschreibt der Verleger Wolff rückblickend, dass »hier ein neuer, der jungen Generation offenstehender Verlag vorhanden war«.
Die von Peter Hinke geleitete und längst zu Ansehen gekommene Connewitzer Verlagsbuchhandlung hat zwei Anlässe verknüpft, um dem Kurt Wolff Verlag eine Reverenz zu erweisen. Zum einen die eigene 25-jährige »Tätigkeit des verbreitenden und herstellenden Buchhandels«, und zum anderen die Feier des Förderpreises, der dem Verlag von der nach Kurt Wolff benannten Stiftung 2015 verliehen wurde. »Und natürlich gab es früh schon Kurt Wolff«, blickte Peter Hinke in seiner Dankesrede zurück: »Schon als Bibliotheksfacharbeiterlehrling passierte ich Mitte der 80er Jahre fast täglich den Ort seines ersten Verlagssitzes in der heutigen Goldschmidtstraße. Ich blickte auf all diese heruntergekommenen Fassaden der Häuser im Grafischen Viertel, die teils noch Zeichen ehemaliger Pracht trugen und schmückte die verlorenen Orte der Leipziger Verlage und Druckereien mit Phantasie aus.«
Fast 100 Jahre sind vergangen, seit der Verleger Wolff selbst eine erste Bilanz seiner Reihe zog und einen »Almanach neuer Dichtung« unter dem Titel »Vom jüngsten Tag« firmieren ließ. Er versammelte Gedichte, Erzählungen, Erinnerungen von 24 Autorinnen und Autoren, deren Namen uns Heutigen in großer Zahl noch etwas sagen: Johannes R. Becher, Georg Heym, Georg Trakl, Franz Kafka, Walter Hasenclever. Diesen Almanach hat Peter Hinke (mit einem Nachwort Klaus Schuhmanns versehen) bereits 1993 als Reprint aufgelegt. Die neue Hinkesche Sammlung zählt 21 Autorinnen und Autoren und nimmt auch einige jener Schriftsteller auf, die bei Kurt Wolff erst nach 1917 in Erscheinung traten. Ohnehin kann man einem Mann wie Wolff auch ein Jahrhundert später nicht genug dafür danken, dass er ein solch ausgeprägtes, ja sinnliches Gespür für Talente besaß.
Peter Hinke hält sich nicht allzu eng an die Reihe »Der jüngste Tag«, die am Ende 86 Titel zählte, und nennt seine Auswahl schlicht »Ein Lesebuch«. Seine Auslese ist mit heutigem Geschmack getroffen und geht auch weiter als die Sammlung von 1917. Der Sanitätsoffizier Dr. Gottfried Benn zum Beispiel veröffentlichte 1916 im Kurt Wolff Verlag seinen Prosaband »Gehirne«, aber war nicht Autor dieser Reihe. Gleiches gilt auch für Else Lasker-Schüler oder für Paul Boldt, dessen Gedichtband »Junge Pferde! Junge Pferde« im Kriegsjahr 1914 bei Wolff in Leipzig erschienen ist. Selbiges ließe sich von Karel Čapek und Iwan Goll sagen, desgleichen von Heinrich Mann. Das Leipzig-Connewitzer Buch ist somit alles andere als eine Nachauflage oder ein Aufguss des Wolffschen Almanachs. Vielmehr bündelt der Band eben jene starken Talente, die seinerzeit nicht dem Reihencharakter entsprachen oder nicht entsprechen wollten. Man mag es bedauern, dass Herausgeber Hinke für die von ihm verantwortete Sammlung bewusst auf die Aufnahme von Szenen oder Akten aus Stücken verzichtet hat, die auch zur Wolffschen Schriftenreihe gehörten, sodass es bei dieser Auswahl leider zu keiner Begegnung etwa mit Oskar Kokoschka als Dramatiker kommt.
In seinem Aufsatz über »Kurt Wolffs Bücherei« von 1963 benennt der Tübinger Germanist Ludwig Dietz den wohl wichtigsten Grund für den Erfolg dieser Schriftenreihe: »Nicht zuletzt hat ›Der Jüngste Tag‹ der Offenheit des Programms Verbreitung und Wirkung zu danken. Er verschrieb sich keiner bestimmten Literaturrichtung, sondern der jungen, bedeutenden Dichtung.« Etwas, was - in bescheidenerem Rahmen und in einem weniger belesenen Deutschland - auch »Buchhersteller«, sprich Verleger Hinke für sich reklamieren kann.
Peter Hinke (Hg.): Vom jüngsten Tag. Ein Lesebuch des Kurt Wolff Verlages 1913-1919. Connewitzer Verlagsbuchhandlung. 144 S., Klappenbr., 15 €.
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