Zurückkehren? Wenn du mir sagst, wohin
Teil II des Tagebuchs aus Idomeni: Europa lässt die Geflüchteten an der griechisch-mazdenoischen Grenze im Stich / Unser Reporter Fabian Köhler ist bei Ihnen
Als das Vibrieren eines vorbeifahrenden Lkws mich sechs Uhr morgens aus dem Schlaf donnert, denke ich kurz darüber nach, den Alltag der Menschen in Idomeni anhand meiner eigenen Empfindungen zu veranschaulichen: die Kälte, vor der man abends in den Schlaf flüchtet und die einen viel zu früh wieder erwachen lässt. Der Ekel vor den Ratten, die sich nachts in jenem Müll verstecken, den Ali morgens verbrennt, um Frühstückskaffee zu kochen. Der Gestank aus den Dixi-Klos, deren Inhalt sich längst auch jenseits des Hartplastikcontainers ausbreitet.
Aber der Vergleich haut nicht hin: Für mich fühlt sich Idomeni schlimmstenfalls an wie wildes Zelten zur falschen Jahreszeit für jemanden, der keine Freunde am Camping hat – immer mit der Aussicht, dass das hier in einer Woche mit einer warmen Dusche enden wird. Für die anderen zehntausend Menschen hier ist dieser Abgrund aus Kälte, Gestank, Schlamm und Resignation das einzige Leben, was diese Welt momentan für sie zu bieten hat.
Mein Zelt steht in einem der vielen kleinen Camps, die sich gebildet haben, als die Flüchtlinge vor Schlamm und Überfüllung ins Umland geflohen sind. Ungefähr 100 Menschen, die meisten syrische und irakische Kurden, leben in »Camp Tankstelle« in und um einer solchen. Das ist gut, weil die asphaltierten Auffahrten verhindern, dass Zelte im Schlamm versinken und das Verhältnis von Steckdose zu Bewohner vielleicht 1:20 statt 1:200 wie in Idomeni beträgt. Das ist schlecht, weil die Flüchtlinge hier größtenteils ohne die Unterstützung von Hilfsorganisationen auskommen müssen.
Rund fünf Kilometer sind es von »Camp Tankstelle« nach Idomeni, drei, wenn man in Kauf nimmt, ab und zu im Schlamm zu versinken. Ein paar Minuten Autofahrt wären es, würden griechische Polizisten nicht immer wieder die Straße absperren. Auch der Feldweg nach Idomeni erinnert auf den ersten Blick mehr an Campingurlaub als an humanitäre Katastrophe: Grüne Felder, die auch nicht wissen, wohin mit den Regenmassen der letzten Tage. Ein paar verlassene Traktoren, die der nächsten Ernte entgegenrosten. Die Gipfel des Belasiza-Gebirges im Hintergrund, die zwischen Griechenland und Mazedonien zu einer Zeit die Grenze zogen, als es noch keinen NATO-Draht und Tränengas gab.
Neben mir zittert sich Fatih die Reifenspuren entlang. Früher war er Kickboxer in Aleppo. Jetzt versucht er sich, mit seiner Frau und seinen beiden kleinen Kinder durchzuschlagen. Das »Früher«, von dem er ständig spricht, scheint für viele Flüchtlinge so gegenwärtig, wie die überall zu spürende Frustration. Seit 10 Tagen läuft Fatih zweimal täglich die Strecke bis zum Grenzzaun, nur um mit der immer gleichen resignierenden Nachricht umzudrehen. Ober er schon einmal darüber nachgedacht habe zurückzukehren, frage ich ihn. Seine Antwort beschreibt das Dilemma der meisten hier: »Wenn du mir sagst, wohin?«
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