Und morgen versuchen sie es wieder
Teil V des Tagebuchs aus Idomeni: Über Rituale im Camp - und Menschen, die ihren Traum von Westeuropa nicht aufgeben wollen
Als am Morgen der Bus vorfährt, der die Flüchtlinge aus Idomeni in eines der dauerhaften griechischen Auffanglager bringen soll, sind Ahmad, Mohammad und Abdullah längst weg. Die drei Syrer sind in der Nacht in Richtung der mazedonischen Grenze aufgebrochen. Mal wieder. Auch wenn die Chancen nicht allzu hoch sind, dass sie es diesmal schaffen, bietet der Ausbruchversuch zumindest etwas Abwechslung vom Lagerleben.
»Wir schlafen, stehen in der Schlange für die Toilette, dann in der Schlange zum Zähneputzen, dann in der Schlange für Tee, dann stehen wir in der Schlange für etwas zu essen, dann in der Schlange für Brennholz und schlafen wieder. Stattdessen kann ich auch hier herumstehen«, sagt Hussam, der es zum prominentesten Flüchtling in Idomeni geschafft hat. Er und seine auf ein Pappschild gemalten politischen Forderungen und traurigen Flüchtlingswahrheiten gehören zu den beliebtesten Motiven der Fotografen am Grenzzaun. Unbeantwortet bleiben sie dennoch.
Hussams Auftritt, der erst vor der Verfolgung Assads, dann vor der Gewalt der al-Nusra-Front und der Armut im Libanon floh, ist nicht das einzige Ritual, das mittlerweile zu den festen Bestandteilen des Lagerlebens gehört: Am Morgen halten an der Zufahrtsstraße zum Camp die ersten Privatfahrzeuge, meist mit griechischen, ab und zu auch mit deutschen Kennzeichen Kleidung an die herbeirennenden Flüchtlinge verteilt wird. Gegen Mittag gibt es es die gewohnte Auseinandersetzung zwischen Syrern und Afghanen. Oft geht um die Frage, wer schuld ist an der Grenzschließung oder um irgendein gestohlenes Handy. Gefühlt mindestens einmal pro Tag errichtet Ärzte ohne Grenze ein weiteres riesiges Zelt mit hunderten orangefarbenen Doppelstockpritschen. Am Abend streunen die Fotografen über die immer noch matschigen Wiesen und fotografieren Familie am Lagerfeuer beim Abendessen vor Bergkulisse.
Am Abend stehen die Busse, die die Flüchtlinge in andere Camps bringen sollen noch immer da. Kaum einer steigt ein. Auch nach drei oder vier Wochen Warten, ohne jedes Anzeichen dafür, dass die Grenze jemals öffnen wird, wollen die meisten Flüchtlinge ihren Traum von Westeuropa nicht aufgeben. Als ich mich schließlich verabschiede und in meinem Bus in Richtung Hafen von Piräus steige, sind auch Ahmad, Mohammad und Abdullah wieder da - mit blauen Flecken. Vermummte mazedonische Soldaten hätten sie auf der mazedonischen Seite der Grenze geschnappt und verprügelt. Froh sind sie trotzdem, schließlich seien sie noch nie so weit gekommen. Morgen wollen sie es wieder versuchen.
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