Der Ernst der Lage
Griechischer Frühling, deutsche EU, asylpolitischer Winter: 2015 war ein Jahr der Zeitenwende für die Linken in Europa
Auf wunderbare Momente folgen Niederlagen und Verrat. Man muss sich danach immer wieder sammeln, zusammensetzen und weitermachen. (Yanis Varoufakis)
«Die Zukunft ist links!», prangte im Dezember 2005 auf dem Heft der Prokla, der Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft. Es war die Zeit kurz nach dem Scheitern von Rot-Grün, jener «Linksregierung unterm Neoliberalismus» (Wolfgang Fritz Haug), damals stieg die Linkspartei gerade auf. Ihr Ankommen im Parteiensystem war noch keineswegs sicher, inzwischen gehört sie in den Augen vieler zu den «Etablierten».
Wöchentlich finden Aufmärsche gegen Flüchtlingsunterkünfte statt, es bilden sich Bürgerwehren. Im Internet herrscht eine Verrohtheit, die vor Todesdrohungen unter vollem Namen nicht zurückschreckt. Und das alles wegen einer Millionen Menschen, die vor Not, Verfolgung, Krieg in Deutschland Zuflucht suchen? Zugleich ist die Zahl der Menschen, die mit den Geflüchteten solidarisch sind, so hoch wie nie zuvor. Und ein Blick über die – von den Herrschenden gern wieder dicht gemachten – Grenzen hinweg signalisiert Hoffnungen.
What‘s left? Wie kann die Linke im Kernland der Austeritätspolitik der Rechtswende entgegentreten und linke Prozesse befördern? Zu einer Antwort wird man nicht kommen, wenn der Widerstand bei antifaschistischen Protesten stehen bleibt und wenn man nur aus der Ferne Bewertungsnoten vergibt. Es müssen die Kräfteverhältnisse angegangen werden – Debatten über Verteilungs- und Demokratiefragen und rot-rot-grüne Politikwechsel eingeschlossen.
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Im Prokla-Editorial war damals von einer «geschwächten neoliberalen Hegemonie» die Rede. Man vermaß für die Zeitdiagnose den Abstand zur Wahl von Margaret Thatcher 1979 in Großbritannien und von Ronald Reagan 1980 in den USA und sah auf eine Periode der «offensiv vorgetragenen Utopie eines neuen Kapitalismus, der von übermäßigen Regulierungen eines sich immer weiter ausdehnenden Staates erst noch befreit werden muss, um für die gesamte Gesellschaft seine segensreichen Wirkungen zu entfalten. Waren Privatisierung und Deregulierung, Steuersenkungen, Abbau sozialer Sicherungen und ein ausgeglichener Staatshaushalt als Maximen staatlicher Politik zunächst noch heftig umstritten, verwandelten sie sich in den folgenden Jahrzehnten zu Selbstverständlichkeiten staatlicher Politik.»
Nun aber, so liest sich im Rückblick das Heft, endlich ein Aufbruch, eine Krise der Herrschenden! Dass die Zukunft links sei, war nicht versehentlich mit einem Ausrufungszeichen versehen. Globalisierungskritiker, neue Linkspartei ... man nahm «Kurs auf linke Mehrheit in der Gesellschaft» und dachte über «sozialistische Gouvernmentalität nach». Natürlich wusste man darum, wie groß Not und Notwendigkeit radikaldemokratischer Veränderungen waren.
Sie sind es immer noch. Doch etwas mehr als ein Jahrzehnt später ist über den Stand und die Perspektiven der gesellschaftlichen Linken eher mit Fragezeichen zu reden. 2015 war ein Jahr der Zeitenwende – gestartet in einen griechischen Frühling, der im Sommer zu einem Herbst des deutsch-orchestrierten Austeritätsblocks erstarrte, zu Ende gegangen in einem Winter des europäischen Rechtsrucks aus Nationalismus, Hetze gegen Flüchtlinge und autoritärer EU-Festungspolitik, in dem selbst organisierte Solidarität mit den immer zahlreicher in Europa vor Not, Elend, Krieg und Umweltzerstörung Schutzsuchenden kleine Wärmeinseln der Menschlichkeit bildeten.
Die Voraussetzungen für linke Politik haben sich noch einmal gravierend verändert, auch wenn das, was anzupacken ist, keines- falls neu erscheint: Man muss nicht Hochschullehrer sein, um zu wissen, dass es ohne Anspruch auf Vollständigkeit mindestens hierum gehen müsste – um einen sozial-ökologischen Umbau der Industriegesellschaft, einen neuen planetaren Ausgleich zwischen Rohstoff- und Ökosystembesitzern auf der einen sowie industriellen Produzenten auf der anderen Seite; um radikale Neuverteilung der bezahlten Erwerbsarbeit und der unbezahlten Reproduktionsarbeit sowie der Einkommen; um eine Entfesselung anderer gesellschaftlicher Innovationsmechanismen als denen der privaten Warenproduktion, um eine durchgreifende Demokratisierung aller Lebensbereiche, um die Überwindung von Mechanismen jedweder Form der Ausgrenzung und Ungleichbehandlung. Und das alles mindestens im europäischen Maßstab.
Vor anderthalb Jahren habe ich in einer Flugschrift die Frage nach einer «Linken Mehrheit» hierzulande ausgelotet. Es ging um die Chancen und Grenzen von Rot-Rot-Grün, um politische Bündnisse und Hegemonie unter den Nachwirkungen des Kriseneinbruchs von 2008. Ganz zu Beginn wurde eine Warnung der Sozialwissenschaftler Jens Beckert und Wolfgang Streeck zitiert, die meinten, «in der nächsten Stufe wird die Krise auf das soziale System übergreifen». Es war für sie offen, «ob und mit welchen Mitteln die Wohlhabenden versuchen werden, ihre Position auch um den Preis einer massiven sozialen und politischen Krise zu verteidigen».
Heute kann mit Blick auf das Jahr 2015 geantwortet werden: Auf EU-Ebene hat ein von der deutschen Regierung angeführter Block zunächst mit den Mitteln eines finanziellen Staatsstreichs die Politik einer gewählten Regierung unterbunden, damit nicht etwa das Beispiel eines alternativen Ansatzes Schule auch in anderen Ländern macht. Möglich wurde dies über schwach legitimierte, kaum demokratisch zu kontrollierende Institutionen der EU und eine tief in das Handlungsmuster des «gemeinsamen Europas» eingeschriebene ökonomische Asymmetrie, von der ein deutscher Exportnationalismus zulasten fast aller anderen profitiert. Dessen politische Verfechter waren sogar bereit, die gemeinsame Währung für ihre kapitalistischen Vorteile preiszugeben. Autoritär und an formaler Regelbeachtung orientiert, wurden auch die restlichen europäischen Staaten auf Kurs gebracht.
In einer zweiten Phase kehrten die zuvor outgesourcten Kosten des europäischen Kapitalismus auf den Kontinent zurück: Hunderttausende Menschen flohen vor Armut, autoritären Regimes und Bürgerkriegen. Die 2010 im «Arabischen Frühling» aufgekeimten sozialen und demokratischen Hoffnungen kamen unter die mörderischen Räder von globalen Neuordnungskonflikten, von Stellvertreterkriegen und der rückwärtsgewandten, religiös verbrämten Politik von antiaufklärerischen Bewegungen. Europa, eben noch auf deutschen Kurs gegen Athen gebracht, zeigte sich plötzlich nicht mehr bereit, der Kanzlerin Angela Merkel zu folgen. Die unterdessen in Regierungen gekommenen Rechtsregime in Osteuropa und die Angst der Etablierten vor dem noch weiteren Aufstieg rechter Parteien konnten Front machen. Eine auf nationale Abschottung und Privilegiensicherung setzende Politik bekommt allerorten Rückenwind.
Das Jahr 2015 bringt dabei eine längere Entwicklung zum Ausdruck, man könnte sagen: In dieser Zeitenwende, die in Wahrheit ja noch gar nicht vorbei ist, stellen sich nun plötzlich die politischen Fragen, die sich ökonomisch in einer langen Entwicklung seit den 1970er Jahren immer drängender stellten – und nie richtig beantwortet wurden. Es stellen sich für die Linke eine Menge politische Fragen, etwa die nach dem real existierenden Spielraum nationaler Politik, der damit einhergehenden Strategie von Organisierung und parlamentarischer bzw. außerparlamentarischer Arbeit. Es geht heute mehr denn je um Europa – nicht verstanden als Behälter für allerlei ideologische und ökonomische Zumutungen, sondern als das soziale und kulturelle Feld, auf dem der Kampf um unsere Zukunft ausgefochten werden muss.
Der Ernst der Lage kann nicht eindringlicher in Erinnerung gerufen werden: Ein nächster Kriseneinbruch wird von Experten vorausgesagt, er könnte drastischer ausfallen, zumal die staatlichen Ressourcen für die Eindämmung der sozialen, ökonomischen und politischen Folgen schon in den Jahren seit 2008 aufgebraucht wurden und das Regime einer europäisch verallgemeinerten «Schulden- bremse» dafür gesorgt hat, dass es eher schlimmer wurde.
Der europäische Rechtsruck hat überdies eine andere Eigendynamik als in der Vergangenheit – erstmals scheinen rechte und rechtspopulistische Parteien auf breiter europäischer Front zugleich zu reüssieren, dies verstärkt ihre Rolle und sorgt mehr noch als zuvor dafür, dass die etablierte Politik den Hetzern und Brandstiftern Zugeständnisse macht, sie dadurch legitimiert. Das völlige Abkippen Europas nach rechts ist in einer Welt, in der extrem autoritäre Politikmuster als Rezept für die innenpolitische Kompensation der Krisenkosten einerseits und die Absicherung alter oder neuer imperialistischer Optionen andererseits gelten, keine völlige Unwahrscheinlichkeit mehr.
Für die gesellschaftliche Linke, die kontinentweit in einem Prozess der Neuorientierung steckt, geht es um nichts Geringeres als ihre Handlungsmöglichkeiten.
Wer im Frühjahr 2016 aus dem Fenster schaut, kann sich keine Schönfärberei leisten. Es sind Fragen aufgeworfen, die man bisher nicht zu beantworten hatte – etwa die danach, ob bestimmte Kapitalfraktionen einem als Bündnispartner für eine einigermaßen humane Zuwanderungspolitik inzwischen näher stehen könnten als Teile der SPD. Oder die danach, wann Linke sich auf einer Demonstration schützend vor eine Kanzlerin stellen werden müssen, weil die Alternative zu deren etwas zurückhaltenderem Antiasyl-Kurs einer der neuen Schießbefehl-Freunde wäre.
Es geht um Widersprüche auch in einer linken Welt, die Geflüchtete allzu oft als Subjekte ihrer politischen Eigenlogiken betrachtet, statt als gleichrangige Partner in sozialen und politischen Kämpfen. Wir können heute über Chancen einer Kursänderung «in einem Land» über die EU und den Euro nicht mehr so reden wie vor dem Griechischen Frühling – und zugleich liegt die Zukunft auch nicht in einer als besser imaginierten Vergangenheit.
Auf den folgenden Seiten wird ein kleiner Versuch unternommen, das Feld abzulaufen, wie es sich nach dem Zeitenwendejahr 2015 zeigt. Es werden Überlegungen, Beobachtungen und Fragen zusammengetragen, die zum Teil aus der tagesaktuellen Arbeit eines Journalisten stammen und nicht den Anspruch erheben, von irgendetwas eine Lösung zu wissen. Denn manchmal ist es hilfreicher, mit den richtigen Fragen konfrontiert zu werden. Allerdings gibt es auch keinen Anlass, den Kopf in den Sand zu stecken. Man muss die real existierenden Herausforderungen in den Blick nehmen.
Aus dem Vorwort von «What’s left? Europas Linke, der Rechtsruck und ein »sozialistischer Kompromiss«, das soeben beim Verlag VSA in Hamburg erschienen ist.
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