Nach wie vor im Fluss
Für Bearbeitung und Reflexion fundamentaler Sinnfragen bleibt angesichts der Dringlichkeit der Situation kaum Zeit
Im Wesentlichen haben wir heute die Arbeit an den verschiedenen Stationen fortgesetzt, in die wir gestern eingeteilt wurden. Wir waren also mit dem Sortieren von Spenden und mit der Strukturierung der Spendenausgabe im Camp von Dunkerque beschäftigt. Während wir gestern die »Neuen« waren, kletterten wir heute schon auf die Stufe »eingeübt«. Mussten wir gestern selbst noch nachfragen, welches Kleidungsstück wo einsortiert wird, wurden diese Fragen heute auch an uns gerichtet. Und wir haben sie so beantwortet, wie wir es inzwischen eben eingeübt hatten. Hinsichtlich der gestern aufgeworfenen Fragen nach Sinn und Unsinn von Charity-Work können wir also zum Einen feststellen, dass ein gewisser Routine-Effekt einsetzt, der es mit sich bringt, dass die thematisierten Widersprüche in der alltäglichen Volunteering-Blase eher verdrängt als bearbeitet werden. Denn für Bearbeitung und Reflexion fundamentaler Sinnfragen bleibt angesichts der Dringlichkeit der Situation kaum Zeit.
Mitunter drängen die Widersprüche jedoch derart ins Bewusstsein, dass ein motiviertes »Weiter So!« nicht geht. Diese Erfahrung machten heute diejenigen von uns, die den zweiten Tag in Dunkerque mit der Spendenverteilung beschäftigt waren. Denn während sich unsere Tätigkeit dort gestern darauf beschränkte, aus dem Inneren eines Containers rationierte Hilfsgüter durch ein Fenster nach draußen zu geben, wechselten wir heute die Perspektive.
Jeden Freitag ist Schuhe-Verteilungs-Tag, ein großes Event im Camp, und dementsprechend der Andrang. Die Aufgabe bestand nun darin, mit einem besänftigenden Lächeln erhitzte Gemüter zu beruhigen, »Stand in line« zu rufen und diejenigen, deren Schuhgröße schon weg ist, auf später zu vertrösten. Kurz: die Lage unter Kontrolle zu halten, Rangeleien zu verhindern, für Ordnung zu sorgen. Und dabei werden die Fragezeichen im Kopf immer größer: »Warum soll ich erwachsene Menschen zurechtweisen und auffordern, sich in die Schlange einzureihen? Warum soll ich sie unterhalten, während sie darauf warten, durch die Fenster eines Containers eine Unterhose und ein paar Socken gereicht zu bekommen? Soll mein strategisches Lächeln faktische Autorität und strukturelle Hierarchien maskieren?«
Uns wurde gestern bei der morgendlichen Einweisung / Teamberatung / Morgenappell / Dienstbesprechung unter Freien gesagt, wir sollen es nicht den JournalistInnen gleichtun, welche die Menschen in den Camps von Calais und Dunkerque häufig zu Objekten ihrer Kameras degradieren und schlimmstenfalls wie Tiere im Zoo behandeln.
Die Kritik eines solchen Journalismus finden wir absolut richtig und wir nehmen die Ansage sehr ernst, weshalb ihr auf unseren Bildern auch zumeist keine Menschen, insbesondere BewohnerInnen der Camps, sehen werdet. Zugleich sehen wir in den, offensichtlich notwendigen, Praxen der humanitären Hilfe Momente der Objektivierung zwischen Volunteers und Refugees. Diese erklären sich auch mit dem permanenten Druck von Außen, welcher zu einer extrem angespannten Atmosphäre innerhalb der Camps führt. Unter solchen Bedingungen genießt die Aufrechterhaltung der Funktionalität der Struktur als Voraussetzung für das Überleben der Menschen oberste Priorität.
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