Warten auf den Yokozuna
In Japans Traditionssport Sumo versucht Kotoshogiku, Großmeister zu werden: Er wäre der erste Japaner mit diesem Titel seit 1998
Hat Japan auf diesen Mann gewartet? Ein Koloss von 177 Kilo, 180 Zentimetern und einem schier unerreichbaren Körperumfang. Im Januar sorgte er für eine Art von Triumph, den sein Land lange nicht erlebt hatte: Beim großen Sumoturnier in Tokio schlug Kazuhiro Kikutsugi, im Ring bekannt als Kotoshogiku, alle Favoriten und wurde Erster.
»Ich habe mich nur darauf konzentriert, keine Fehler zu machen. Aber ich bin froh, so ein Ergebnis geschafft zu haben«, pustete Kotoshogiku, der selbst überrascht schien. Nach zehn Jahren Dürrezeit ist er der erste Japaner, der eines der jährlich sechs »Basho« genannten Turniere gewonnen hat. Und das Allergrößte schien greifbar nahe.
Fast wäre Kotoshogiku der seit 1998 erste Japaner geworden, der in der urjapanischsten aller Sportarten die Spitze erklimmt. Hätte er auch das Turnier in Osaka gewonnen, das am Wochenende endete, wäre Kotoshogiku vom Ältestenrat des Sumoverbands zum Yokozuna erklärt worden - dem höchsten Rang der Sportart, die Beförderung zum Großmeister. Er schien aber schon vorher zu zittern: »Manchmal kriegt man nicht, was man will, auch wenn man alles versucht. Ich bleibe mit den Füßen auf dem Boden«, sagte er zu Beginn des Wettbewerbs vor zwei Wochen.
Den Schlagzeilen in den Zeitungen dieser Tage nach zu urteilen stand schließlich eine ganze Nation hinter ihm und hoffte. Aber schon einige Tage vor Turnierende war klar: Der Japaner hatte zu viele Kämpfe verloren, die Hoffnungen seiner Landsleute waren zunächst geplatzt.
Dabei bangen womöglich gar nicht mehr so viele Japaner. Jeder kennt den Nationalsport, die meisten sehen ihn als wichtiges kulturelles Erbe, auch weil er religiöse Ursprünge hat, die 2000 Jahre zurück reichen und bis auf den Kaiserhof zurückgehen. Aber Sumo steckt seit Jahren in einer tiefen Krise. Vor 20 Jahren hatten Sumo-Übertragungen noch höhere Einschaltquoten als Liveberichte von jeder anderen Sportart. Doch anno 2016 ist sogar schon Golf beliebter, und Fußball und Baseball sind längst außer Reichweite. An den Wänden der Kinderzimmer Japans hängen keine Poster von dicken, halbnackten Ringern mehr: Dort prangen die Konterfeis Baseballstars oder Porträts von japanischen Fußballern in der Bundesliga.
Der Niedergang des Traditionssports hat viele Gründe. Japans Wandel zu einer Gesellschaft, in der sich fast jeder zur Mittelschicht zugehörig fühlt, hat dem Sumo ein Stück Legitimation entzogen. Früher kamen die besten Ringer aus den armen, ländlichen Regionen. Sie heuerten in den Sumoställen in Tokio an, wo sie mit den Stallkameraden lebten, ein entbehrungsreiches Leben führten. Immerhin für Kost und Logis war gesorgt.
Heute hat Japan einen Sozialstaat, Eltern setzen lieber auf Bildung als Körpergewicht. Die Bewerberzahlen sind so stark gesunken, dass sich einige Sumoställe zuletzt aktiv auf Nachwuchssuche begeben mussten und die Aufnahmekriterien senkten. Die zahlreichen Skandale der letzten Jahre, von Gewalt in den Ställen zu Steuerhinterziehung und Korruption, machten die Lage noch schlimmer.
Noch mehr ins Gewicht fallen dürfte allerdings die Tatsache, dass es seit fast zwei Jahrzehnten an japanischen Siegern mangelt. Der letzte Japaner, der den Rang des Yokozuna bekleidete, war der Tokioter Takanohana, der 2003 seine Karriere beendete. In den 1990er Jahren erlebte Sumo mit Takanohana und dessen Bruder Wakanohana, der ebenfalls Yokozuna war, eine Boomzeit. Die japanischen Brüder und der kolossale, 230 Kilo schwere US-Amerikaner Akebono lieferten sich umjubelte Duelle, die zu nationalen Rivalitäten erklärt wurden. Damals wurde Sumo auch in Deutschland live übertragen.
Bis heute trauern Sumofans diesen Zeiten hinterher. »Japanische Idole wären schon gut für den Sport«, glaubt Harumafuji, ein aktueller Yokozuna, der aber nicht Japaner ist, sondern Mongole. Als vor zwei Jahren dessen Landsmann Kakuryu zum 71. Yokozuna der Geschichte befördert wurde, war dies schon der fünfte Großmeister in Folge, der nicht aus dem Heimatland des Sumo kam. Dies ist insofern erstaunlich, als dass Sumo zwar in vielen Ländern systematisch betrieben wird, darunter auch in Deutschland, der Sport aber nur in Japan Profistatus hat - seit 400 Jahren. Und trotzdem haben die Einheimischen die Führung abgegeben. Wer mit mit einfachen Japanern spricht oder sich am Rande der großen Turniere umhört, erfährt schnell, wie unangenehm vielen Japanern das ist. »Sumo war mal unser Sport«, heißt es häufig.
Doch wie im Tennis oder im Fußball, das einst die Engländer dominierten, hat auch im Sumo die Mutternation die führende Rolle schon lange hergeben müssen. Mit dem Unterschied, dass sich Tennis und Fußball längst als Sport- und Wirtschaftsphänomene globalisiert haben, Sumo außerhalb Japans eher als Kuriosum wahrgenommen wird. So blickt der Sumoverband nicht ohne Sorgen in die Zukunft - auch wenn er dies offiziell nie einräumen würde.
Kotoshogiku, der im Frühjahr noch 2016 noch den Yokozuna-Titel verpasste, ist nun immerhin ein Hoffnungsschimmer. Und noch besser: Er ist nicht mehr der einzige. Beim Turnier in Osaka kämpfte sich der gebürtige Japaner Kisenosato in den Vordergrund, landete am Ende auf dem zweiten Platz. Der Sieg ging an den mongolischen Yokozuna Hakuho. Beim nächsten großen Turnier im Mai in Tokio zählen Kotoshogiku und Kisenosato nun immerhin zu den Mitfavoriten. Aber damit ein Ringer wieder zur Inspiration für die japanische Jugend wird, die heute eher schnell und wendig wie der Fußballer Shinji Kagawa von Borussia Dortmund sein will, nicht groß und schwer wie die Sumokolosse, bräuchte es wohl diesen ganz großen Titel - den des Yokozuna.
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