Vorm internationalen Strafgericht

Martin Leidenfrost beobachtete in Den Haag den Versuch, Kriegsverbrechen juristisch zu ahnden

  • Martin Leidenfrost
  • Lesedauer: 4 Min.

Am 24. März um 15:36 Uhr wurde der Bildschirm im Medienzentrum grau, das Urteil war verkündet. 40 Jahre Haft für Radovan Karadzic, 1992 bis 1996 Präsident der Serbischen Republik in Bosnien, schuldig gesprochen für schwere Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und einen Genozid in Srebrenica. Mehr als 100 Journalisten packten ihre Sachen, die Bosnier liefen auf das Rasenstück vor dem Jugoslawien-Tribunal hinaus. Später sollte ich in den Zeitungen lesen, dass das Urteil in Bosnien für Genugtuung sorgte, an jenem Nachmittag in Den Haag erlebte ich aber fast nur Zorn.

Ein Alter aus Zvornik mit umgehängter Bosnienfahne bellte: »Es gibt keine Gerechtigkeit und keinen Frieden.« Die meisten Demonstranten waren Bosnier, unter ihnen viele Auswanderer, die gut Holländisch oder Deutsch sprachen. Einige hatten die alte bosnische Königsfahne »so circa aus dem Mittelalter« aufgespannt, auch sie waren »unzufrieden«. An der locker abgesperrten Zufahrtsrampe standen drei deutsche Albaner mit blutroter Albanienfahne und hellroten Sneakers: »Wir sind hier, weil die Serben auch bei uns in Kosovo einen Genozid gemacht haben.« Wie so oft hatte das Tribunal dumm agiert und die Urteilsverkündung auf den Jahrestag des Beginns der Bombardierung Jugoslawiens durch die NATO gelegt. Enthusiasten von der »Gesellschaft für bedrohte Völker« hatten ihren großen Tag, die Haager Polizei ließ diesen ewig jungen Deutschen das Wildparken durchgehen. Sie entfachten und filmten Transparente:»Wir gedenken der 8372 Opfer des Völkermords.«

Die Aufmerksamkeit galt den Müttern von Srebrenica. Sie klagten an, dass Karadzic nicht Lebenslang bekam und dass er im ersten der elf Anklagepunkte freigesprochen wurde, für Völkermord in ganz Bosnien schon zu Beginn des Krieges. Eine Alte mit weißem Kopftuch krächzte in eine Kamera: »Er kommt in zehn Jahren raus, geht spazieren und lacht uns ins Gesicht.« Ein britischer Reporter in tailliertem Kaschmirmantel ließ sich dies übersetzen und dankte ihr schmierig lächelnd. Nur bei Anrechnung der acht bereits verbüßten Jahre und eines Haftnachlasses um ein Drittel käme Karadzic mit 90 frei.

Ein schwarz gelockter Amerikaner im Talar kam aus dem Gericht, Karadzics Rechtsberater Peter Robinson. Er stellte sich vor den hohen Gerichtszaun und erzählte mehreren Runden von Journalisten dasselbe: »Karadzic hat enttäuscht und erstaunt reagiert.« Drei, vier Mal boxten sich Srebrenica-Mütter zu ihm durch und schrien ihn auf Serbokroatisch an: »Schämen Sie sich nicht?« - »Ich habe Sohn und Mann verloren, nur weil wir Muslime sind.« - »Sie tun das für Geld.« »ER hat heute ein besseres Leben als WIR.« - »Das Böse triumphiert.« - »Wir leben in Häusern ohne Fenster, in Dunkelheit.« Der Anwalt suchte sie zu besänftigen: »I am really sorry«, die »Definition von Genozid« sei eben eine andere. Eine Grauhaarige attackierte den Anwalt: »Sind Sie glücklich? Weil Sie lachen!« Das war ein Missverständnis, Amerikaner lächeln eben dauernd. Robinson, der Karadzic seit 2008 verteidigt, sprach Srebrenica immer noch falsch als »Srebrenitscha« aus. »Niemand ist mit dem Urteil zufrieden«, fauchte er, scherte aus und lief weg.

Ich fuhr langsam aus Den Haag hinaus. Schon beim nächsten Häuserblock war nichts mehr vom großen Urteil zu spüren, wegen des längst zur »B-Krise« downgegradeten Balkans machte Den Haag kein Aufhebens mehr. Radfahrerinnen mit vorgespannten Kind-, Tier- und Einkaufsbehältern nahmen sich Vorrang. Ich dachte daran zurück, dass der Internationale Gerichtshof 2015 die gegenseitigen Klagen Kroatiens und Serbiens auf Genozid abgewiesen hatte. Zynisch, aber zutreffend spottete der kroatische Autor Ante Tomic damals: »Der Genozid ist der Mercedes unter den Verbrechen.« Er fragte: »Genozid? Wer in Teufels Namen braucht so was?« Seine Antwort: »Leider gar nicht so wenige.« Die Nationalitäten des Balkans kämpfen so verbissen um die Anerkennung erlittener Verbrechen, dass die Mütter von Srebrenica glauben, ihr Schmerz wäre durch das große Wort Genozid zu lindern. Auch wenn der Massenerschießung von Bosniaken kleinere Massaker an Serben vorausgegangen waren, muss das wohl größte europäische Massaker nach dem Zweiten Weltkrieg bestraft werden. Die Einstufung von Srebrenica als Völkermord bereitet mir aber Bauchweh. In Kriegen, die da noch kommen können, ist der gerichtlich bestätigte Genozid des Feindes ein gar scharfes Schwert.

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