Was wir verloren haben, hat keinen Preis
Eine Bergbaukatastrophe verwandelte einen ganzen Landstrich in Brasilien in eine Schlammwüste
Die Straße nach Paracatú führt am Fluss entlang. Es ist eine idyllische Landschaft, rundherum Hügel, die mit Mata Atlántica, der für Brasiliens Küstenregion typischen Urwaldvegetation, bewachsen sind. Am ausgefransten Flussbett ist leicht zu erkennen, dass hier etwas das ganze Ökosystem durcheinander gebracht hat. Alle Baumstämme sind einige Meter hoch mit lehmig-braunroter Farbe verschmiert. Die Markierung zeigt an, in welch unvorstellbarer Höhe sich hier eine zerstörerische Schlammlawine entlang wälzte.
Überall ist noch Schlamm zu sehen. Die Straße selbst war meterdick darunter begraben. Ein kleiner Zufluss fließt durch ein künstliches Bett aus aufgeschütteten Steinen durch die Schlammwüste. »Das ist Teil der Aufräumarbeiten. Auf diese Weise soll verhindert werden, dass weiter Schlamm flussabwärts getragen wird«, erklärt Airton Sales. Er stammt aus Paracatú, wo er früher jedes Wochenende seine Eltern und Freunde besuchte.
Jetzt ist der Heimatbesuch eine Qual. Seit dem 5. November 2015, als rund 20 Kilometer oberhalb das Klärschlamm-Staubecken einer Eisenmine brach. Die riesige Schlammlawine tötete 19 Menschen und begrub das nahe gelegene Dorf Bento Rodrigues fast vollständig. »Wäre es nachts passiert, wären Hunderte ums Leben gekommen. Es war nachmittags, da konnten die wenigen Minuten genutzt werden, die meisten Bewohner in Bento zu warnen,« berichtet Airton.
Bis nach Paracatú brauchte die lehmige Welle weit über eine Stunde. Alle Bewohner konnten sich retten, verloren aber alles. Das einstige Dorf bietet ein grausiges Bild. Fast alle Häuser sind zerstört, Dächer, Fensterteile und Möbel liegen herum, sogar Küchenutensilien und Bücher. Der getrocknete Lehm steht innerhalb der Hausmauern meist bis zu den Fenstern, alles wirkt wie in rotbraune Farbe getaucht. Nur die Kirche und die zweistöckige Schule wurden nicht zerstört, sind aber auch nicht betretbar. »Aufräumen ist unmöglich«, flüstert Airton, vielleicht weil es so erdrückend still ist. Nur einige Vögel zwitschern in den Baumkronen.
Airton zeigt auf zwei Häuser am früheren Dorfrand: »Dort hat meine Familie gewohnt.« Das Leben hier sei sehr schön gewesen, ruhig und ganz anders als in der Stadt. »Hier hatten wir unser bescheidenes Stück Land, saßen abends vor der Haustür, jeder kannte jeden im Dorf.«
Wie alle anderen Bewohner von Paracatú lebt Airtons Familie jetzt in der Provinzhauptstadt Mariana in Mietwohnungen. Samarco, der Betreiber der Eisenmine, hat alle 700 Betroffenen dort untergebracht und mit dem Notwendigsten versorgt. Doch die Entwurzelten klagen nicht nur über die Vereinzelung und die hohen Lebenskosten in der Stadt. Sie wollen Wiedergutmachung, soweit dies überhaupt möglich ist.
Eine Organisation, die die Betroffenen aktiv unterstützt, ist die Bewegung der Opfer von Staudämmen (MAB). Sie bietet juristische Hilfe an und ist ähnlich wie die Landlosenbewegung in ganz Brasilien dafür bekannt, viele Menschen für ihre Anliegen zu mobilisieren. Thiago Alves, MAB-Sprecher in Mariana, geht mit dem Unternehmen Samarco hart ins Gericht: »Es war kein Unfall, es war ein Verbrechen. Sie haben die Produktion erhöht und immer mehr Abwasser in das Becken geleitet, ohne sich um das Risiko zu kümmern«, erklärt der Aktivist. Trotz der nahe gelegenen Dörfer habe Samarco nicht einmal Warnsirenen installiert.
Auch ein Untersuchungsbericht der Staatsanwaltschaft spricht von einem Verbrechen und zumindest fahrlässiger Tötung. Mehrere Samarco-Verantwortliche müssen sich gegen diesen Vorwurf womöglich vor Gericht verantworten.
Thiago Alves hofft, dass Staatsanwaltschaft und Justiz das Unternehmen zur Rechenschaft ziehen werden. Ein langwieriger Weg, denn der Bergbauriese Vale, dem Samarco zur Hälfte gehört, ist als eines der größten Exportunternehmen Brasiliens sehr einflussreich. Die MAB begrüßt zwar, dass sich Samarco mit der Bundesregierung auf eine Entschädigung in Milliardenhöhe geeinigt hat. »Doch so, wie das Problem angegangen wird, kann es nicht klappen«, sagt Thiago. »Nicht die Betroffenen, sondern die Unternehmerseite darf darüber entscheiden, wie entschädigt und wie die Umweltschäden beseitigt werden. Wir hoffen, dass die Justiz diesen Deal nicht absegnen wird.«
Lediglich von einem unvorstellbaren Unglück spricht hingegen João Paulo Batista. Der Sozialsekretär der Stadtverwaltung von Mariana lobt den Minenbetreiber dafür, sehr schnell geholfen zu haben, ohne Kosten zu scheuen. »Samarco brachte die Betroffenen zuerst in einer Sporthalle unter, dann in Hotels und schon nach wenigen Tagen in Mietwohnungen.« Die Menschen hätten nur noch das gehabt, was sie am Leib trugen, erinnert sich Batista. »Jetzt bekommen alle monatlich Geld für ihre Alltagsausgaben. Zudem hat die Stadtverwaltung eine psychologische Betreuung eingerichtet. Aber zufrieden? Nein, zufrieden ist niemand, dazu ist der Verlust zu groß«, sagt Batista.
Laut dem jungen Politiker sind alle in Mariana von dem Desaster betroffen. Da die Mine derzeit still liege, seien Tausende Arbeitsplätze gefährdet, das Steueraufkommen gehe zurück und Entlassungen in der Zulieferindustrie würden die Arbeitslosigkeit in die Höhe treiben. »Mariana ist vom Erzabbau abhängig, da immer wieder versäumt wurde, andere Wirtschaftszweige wie den Tourismus aufzubauen.« Ein beträchtlicher Teil der vereinbarten Entschädigungssumme müsse in Mariana investiert werden, fordert Batista. »Und Samarco sollte möglichst bald wieder produzieren.«
Mônica Caetana hingegen ist gar nicht gut auf das Unternehmen zu sprechen. »Sie haben die Straße nach Bento Rodriguez einfach gesperrt. Ich darf also nicht einmal mehr dorthin, obwohl mir das zerstörte Haus und der Grund und Boden dort noch gehören. Unverschämt!« Trotzdem gelingt es Mônica immer wieder, in die Nähe ihres Dorfes zu gelangen. Die Zufahrt selbst ist jetzt eine riesige Baustelle, wo Samarco offenbar versucht, eine neue Staumauer für das immer noch bergab fließende Lehmwasser zu errichten.
Jenseits des Flusses steht Mônica auf einer Anhöhe und blickt zu dem Dorf hinüber, wo sie geboren wurde und 28 Jahre lang gelebt hat. Einige höher gelegene Häuser stehen noch, der Rest ist für immer unter Schlamm begraben. Da sie in Mariana arbeitet, war sie nicht hier, als der Damm brach. Sie raste sofort nach Hause, da war alles schon passiert. An schnelle Hilfsaktionen von Samarco kann sie sich nicht erinnern, im Gegenteil: »Nach Einbruch der Dunkelheit stellten sie die Suche nach Verschütteten ein. Erst am nächsten Morgen kamen sie mit schwerem Gerät wieder.«
Das schlimmste seien die Hubschrauber gewesen: »Zwei kreisten unentwegt über dem, was von unserem Dorf übrig geblieben war. Aber sie waren nicht von Samarco oder der Feuerwehr. Sie halfen den verzweifelten Menschen auch nicht. Sie waren von Globo und einem anderen TV-Sender, die alles live übertrugen.«
Ihr Großvater sagte immer, dass die Angst vor einer großen Katastrophe präsent war, seitdem dort oben mehrere Schlammbecken gebaut wurden. Sein Haus stand viele Jahre vor dem Beginn der Eisenförderung. »Er hat nicht in einem Gefahrengebiet gebaut, sondern die Firma hat das Gelände zu einem Gefahrengebiet gemacht.« Mônica erhebt die Stimme: »Wir sind nicht damit zufrieden, jetzt in einer Mietwohnung in Mariana zu wohnen. Es ist unser Recht, korrekt entschädigt zu werden.« Zudem müssten Samarco wie auch die Stadtverwaltung dafür sorgen, dass Bento Rodrigues an einem anderen Ort wieder aufgebaut wird.
Mônica und Airton gehören zu den Betroffenen, die sich organisieren und für ihre Rechte kämpfen. Regelmäßig treffen sie sich, um deutlich zu machen, dass das Desaster noch lange nicht vorbei ist. Dabei sind sie oft recht alleine. Es sind nicht viele in Mariana, die sich über fünf Monate nach dem Dammbruch noch solidarisch zeigen. »Die Leute sorgen sich mehr um die wirtschaftlichen Probleme wegen der stillgelegten Mine als um die Lage derer, die ihr Hab und Gut verloren haben«, sagt Mônica nachdenklich.
Auch Airton weiß, dass sich kaum jemand wirklich vorstellen kann, was ihnen widerfahren ist: »Wir haben unsere Kultur, unsere Geschichte verloren. Das hat keinen Preis.« Egal, wie viel Entschädigung sie vielleicht einmal erhalten werden - »es kann nicht genug sein, das wieder gut zu machen, was sie angerichtet haben«.
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