Ein neoliberales Projekt
Offene Grenzen würden die Kluft zwischen reichen und armen Ländern weiter vergrößern, meint Jörg Goldberg
Grenzen können Todesfallen sein. Dass sie es heute vermehrt und direkt vor der europäischen Tür sind, stellt der »Wertegemeinschaft« EU ein schlechtes Zeugnis aus. Die europäische Asyl- und Einwanderungspolitik nimmt bewusst den Tod von tausenden Menschen in Kauf. Vor diesem Hintergrund erscheinen Forderungen nach Öffnung der Grenzen für alle sympathisch. Auch deshalb, weil die Anhänger von Mauern und NATO-Draht oft gleichzeitig - siehe das geplante Freihandelsabkommen TTIP zwischen der EU und den USA - Grenzenlosigkeit für Waren, Dienstleistungen und Kapital fordern.
Dass grenzenlose Arbeits- und Niederlassungsfreiheit zu sozialen Problemen (nicht nur in Einwanderungsländern) führen könnte, ist unbestreitbar - das gilt aber auch für Freihandel und grenzenlose Finanzmärkte. Wer letzteres (Freiheit für Handel/Kapital) fordert, ersteres (offene Grenzen) aber ablehnt, ist inkonsequent. Das gilt allerdings auch umgekehrt: Wer gegen die Deregulierung von Waren- und Kapitalverkehr ist, kann nicht gleichzeitig für die Deregulierung der Migration sein. Die Abschaffung von Grenzen ist ein neoliberales Projekt.
Tatsächlich gibt es Radikal-Liberale wie den Schweizer Ökonomen Hansjörg Walther, die für offene Grenzen plädieren - meist mit dem Argument, dies mehre den europäischen Wohlstand. Ausgeklammert werden die Folgen für jene Länder, aus denen die Migranten kommen (sollen). Und hier wird deutlich, dass der sympathische »utopische« Ruf nach offenen Grenzen anschlussfähig ist an sehr unsympathische Praktiken reicher Länder.
Tatsächlich gibt es bereits »offene« Grenzen - für bestimmte Personengruppen. Der »Kampf um die besten Köpfe« zwischen den Industrieländern tobt schon lange - mit negativen Folgen für die Bevölkerung der Auswanderungsländer. So hat im Gesundheitswesen die Migration von Fachpersonal einen solchen Umfang angenommen, dass die Weltgesundheitsorganisation einen »Verhaltenskodex« vertritt, der die Abwanderung von Ärzten und Krankenschwestern aus armen Ländern bremsen soll. In angelsächsischen Industrieländern stammen bis zur Hälfte der Ärzte und bis zu einem Drittel des Gesundheitspersonals aus dem Ausland, oft aus Afrika. Mehr als ein Drittel zum Beispiel der in Südafrika ausgebildeten Ärzte arbeitet in reichen OECD-Ländern. Deutschland hat - aus Sprachgründen - Nachholbedarf, was durch intensive Anwerbeaktionen ausgeglichen werden soll. So war die anfangs relativ offene Haltung der Bundesregierung in der Flüchtlingsfrage auch migrationspolitisch motiviert - man hoffte auf billige Arbeitskräfte.
Asyl für Flüchtlinge aber darf nicht mit der Migrationsfrage vermischt werden, wie es auch in der Debatte um offene Grenzen oft geschieht. Migranten sind vor allem relativ gut ausgebildete, junge, leistungs- und anpassungsfähige Menschen aus städtischen Räumen. Arme Menschen mit geringer Schulbildung, Kleinbauern und Bewohner ländlicher Räume - die große Mehrheit der Bevölkerung der armen Länder - können nicht migrieren. Für sie sind offene Grenzen lebensbedrohend. Schon heute tragen arme Auswanderungsländer erheblich zur Finanzierung beispielsweise des Gesundheitswesens reicher Länder bei. Angesichts der bestehenden gewaltigen Wohlstandsunterschiede in der Welt würden offene Grenzen die Kluft zwischen reichen und armen Ländern weiter vergrößern.
Dies ist kein Argument für Abschottung. Migration ist notwendig und sinnvoll, wenn die Chancen gerecht verteilt sind. Dazu müssen die Bedingungen aber im Rahmen demokratischer Prozesse und unter Beteiligung aller Betroffenen - vor allem der Bewohner armer Länder - gestaltet werden. Migration darf nicht den Aufnahmeländern überlassen werden. Wenn die USA jedes Jahr eine »green card lottery« veranstalten, deren Gewinner Arbeits- und Aufenthaltsgenehmigungen erhalten, so ist dies eine Abwerbeaktion zu Lasten armer Länder, bei denen nur ausgebildete Menschen Gewinnchancen haben. Die europäische »blue card« zielt ebenfalls auf diese Zielgruppe.
Internationale Migration ist, wie der Name schon sagt, eine supranationale Angelegenheit. Notwendig ist eine demokratische Gestaltung der Wanderungsbedingungen, welche die Interessen aller Betroffenen in Rechnung stellt. Unregulierte Migration nutzt nur einer wirtschaftlich starken Minderheit sowohl in den Auswanderungs- als auch in den Einwanderungsländern.
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