Nach Berlin!

Karlen Vesper ist empört über die pietätlose Ausladungspolitik des Auswärtigen Amtes zum 80. Jahrestag der Befreiung

Es begann am 22. Juni 1941 mit dem heimtückischen Überfall Nazideutschlands auf die Sowjetunion – woran diese Stele am Eingang zur Gedenkstätte Seelower Höhen erinnert.
Es begann am 22. Juni 1941 mit dem heimtückischen Überfall Nazideutschlands auf die Sowjetunion – woran diese Stele am Eingang zur Gedenkstätte Seelower Höhen erinnert.

Erinnert sich noch jemand an den Song »Bonzo Goes to Bitburg« der US-amerikanischen Punk-Band Ramones? Ein Protest gegen den Besuch von Ronald Reagan auf einem Soldatenfriedhof in Rheinland-Pfalz. Der damalige US-Präsident war von Helmut Kohl zur Ehrung dort bestatteter Weltkriegsgefallenen eingeladen worden, anlässlich des 40. Jahrestags des Kriegsendes, als Geste der Versöhnung. Unter den dort liegenden Toten jedoch kein einziger GI, nur Wehrmachtssoldaten – und SS-Angehörige. Das US-Repräsentantenhaus hatte vorab mehrheitlich, aber vergeblich gegen die Visite des einstigen Westernhelden, der nun im Weißen Haus saß, votiert. Des Bundeskanzlers Intention: Normalität. Auch Deutschland hatte Opfer zu beklagen. Die »Times« konstatierte ein »Bitburg Fiasco«. Die Ramones sangen: »Reagans Ding war das Vergeben und Vergessen. Wie kann man vergessen, dass sechs Millionen Menschen vergast und verbrannt wurden?« Und auch Bundesbürger und -bürgerinnen, Demokraten und Antifaschisten waren entsetzt, protestierten.

Bei den Seelower Höhen starben im April 1945, in nur vier Tagen, über 10 000 Wehrmachtssoldaten und dreimal so viele Sowjetsoldaten. Allein menschlicher Anstand gebietet es, den Nachfahren Zugang zu gewähren zu diesem leidvollen Ort. Da geht es nicht um Politik. Dass ausgerechnet das Auswärtige Amt, (Rechts-)Nachfolger des Reichsaußenministeriums, das sich unter dem 1946 vom alliierten Militärtribunal zum Tode verurteilten Joachim von Ribbentrop tatkräftig an der Konzipierung und Realisierung des Eroberungs- und Vernichtungskrieges gegen die Sowjetunion beteiligt hat, eine Ausladung des russischen Botschafters empfahl, ist beschämend.

Was für ein Geschrei würde sich übrigens in Deutschland erheben, wenn das russische Außenministerium Angehörigen der in russischer Erde liegenden deutschen Soldaten dergleichen auf Soldatenfriedhöfen in Russland verwehren würde? Nun gut, das steht jetzt nicht zur Debatte. Und von einem noch von Annalena Baerbock geführten Haus war wohl nichts anderes zu erwarten. Die Märkisch-Oderländer ließen sich indes nicht einschüchtern. Kein Zurück in altbundesrepublikanische Zeiten, da Deutsche nur der deutschen Weltkriegsopfer gedachten.

Still legte der Botschafter Russlands, Sergei J. Netschajew, eine Nelke für die Seinen nieder. Dass sich keine offiziellen Vertreter der Bundesregierung anschlossen, ist traurig. Spricht aber für sich. Schließlich trommelt man Aufrüstung, will gewappnet sein, wenn Russland Deutschland angreife. Zur Erinnerung: Damals hat nicht Stalin Hitler mit Krieg überrascht. (Und sehr unwahrscheinlich ist, dass Putin dem Merz den Krieg erklärt.)

»Nach Berlin!«, schrieben Rotarmisten euphorisch nach opferreich gewonnener Seelower Schlacht auf ihre Panzer, als sie von der Oder vorstießen zur Stadt an der Spree. Es galt, eine Bestie zu bezwingen, die über 50 Millionen Menschenleben ausgelöscht hatte, darunter 27 Millionen Sowjetbürger und -bürgerinnen. Das ist und bleibt historische Wahrheit.

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