Arbeitnehmer 4.0 - potenziell ohne Job
Die neue Arbeitswelt verlangt Beschäftigten und Betrieben neue Strategien ab
Als Barack Obama und Angela Merkel Anfang der Woche ihre Runde über die Hannover-Messe drehten, bekamen sie es mit »Revolutionären« zu tun: Am Siemens-Stand wurde ihnen erklärt, es sei eine »Revolution im Maschinenbau« im Gange. Die »Barrikaden« der technischen Systemveränderer tragen dabei Namen wie Totaly Integrated Automation Portal. Kunden könnten künftig individuell angepasste Produkte beziehen - dank dynamischer Steuerung vernetzter Arbeitsabläufe. Maschinen müssten bei neuen Produkten nicht völlig umgerüstet werden, das besorgt die Elektronik.
In Hannover wurde unter dem Stichwort »Industrie 4.0« viel über technische Innovation und wenig über die davon betroffenen Jobs gesprochen. Bei Siemens weiß man, »die Aufgaben für die Beschäftigten werden komplexer, interdisziplinärer und insgesamt anspruchsvoller«. Fast alle Futurologen sind sich einig, dass der Arbeitnehmer 4.0 flexibler, qualifizierter und selbstständiger sein sollte. Nicht nur in der Produktion, sondern auch in der Dienstleistung macht sich Roboterisierung breit - Drohnen übernehmen die Briefzustellung, Roboter führen menschenleere Lagerhallen und 3D-Drucker ersetzen den Transport von Vorprodukten.
Die zentrale Frage: Welches Arbeitsvolumen benötigt man noch in einer fortgeschrittenen Industrie- und Servicegesellschaft? Eine Langfristprognose über die Fortschreibung der zuletzt gezählten 59 Milliarden Arbeitsstunden scheuen die meisten Forscher. Denn unsicher ist, ob die Arbeitslosenzahlen durch den Strukturwandel in den nächsten zwei Dekaden steigen oder schrumpfen. In letzterem Fall könnte man das Arbeitsvolumen auf immer mehr Erwerbstätige verteilen. Das würde aber nur die prekären Teilzeitjobs pushen.
Per Saldo dürften die Jobverluste durch neue Tätigkeiten weitgehend kompensiert werden. So sieht es zumindest das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB). Seine Forscher schätzen, dass bis 2026 rund 490 000 Arbeitsplätze durch die Automatisierung verloren gehen, zugleich aber 430 000 neu geschaffen werden. Die Digitalisierung steigert die Mobilität zwischen den Branchen und Berufen, steht in einer Studie der Bank ING DiBa. Gerade veröffentlichte sie die deutsche Adaption einer US-Studie von 2013. In ihr hatten die Ökonomen Carl Benedikt Frey und Michael Osborne aussterbende Berufe prognostiziert - demnach 59 Prozent aller Jobs. Am stärksten betroffen seien Bürotätigkeiten wie Sachbearbeiter oder Sekretärin. Dahinter folgen Hilfskräfte, Mechaniker und Maschinenbediener sowie Lager- und Transportarbeiter. Den geringsten Strukturwandel werden Ärzte spüren.
In einer ähnlich gelagerten Studie kommt das Europäische Zentrum für Wirtschaftsforschung in Mannheim auf 42 Prozent wegfallende Jobs in den nächsten 20 Jahren. Die Forscher gehen davon aus, dass sich viele traditionelle Berufe wandeln werden, aber bestehen bleiben. Es werde keine menschenleeren Fabrikhallen geben, prophezeit Siemens, aber die Zusammenarbeit von Mensch und Maschine erfordere gute Personalpolitik.
Wie genau die künftige Arbeitswelt aussehen wird, ist offen. Vernetzung und Kooperation von Mensch und Maschine verändern die Art, wie wir produzieren, und schafft auch neue Produkte und Dienste, da sind sich Experten einig. So entstehen neue Berufe und Qualifikationen.
Die internetgestützte Flexibilisierung der Arbeit bedarf rechtlicher Rahmenbedingungen, heißt es in einer vom Arbeitsministerium in Auftrag gegebenen Studie des Berliner Instituts für Innovation und Technik. Zwar entstehe durch den oft wegfallenden Präsenzzwang mehr Freiheit, technische Überwachungsmöglichkeiten würden aber ausgeweitet: Kontroll- und Sanktionsmöglichkeiten der Arbeitgeber stellten Freiräume wie die Wohnung der Arbeitnehmer in Frage, warnen die Forscher.
Neben dem notwendigen Datenschutz stünden auch ganz neue Fragen hinsichtlich Gesundheits- und Arbeitsschutz an. Digitale Technologien erforderten von Mitarbeitern höhere Arbeitsgeschwindigkeit und Flexibilität. Es müsse eine Technik etabliert werden, die Mitarbeiter vor Überforderung und Stressbelastung schütze: »Dies gelingt am besten, wenn die Arbeitsbedingungen von Anfang an in die Technikentwicklung einbezogen werden.« Es bleibt aber die Grundfrage, inwieweit sich die Technik dem Menschen anpasst und umgekehrt.
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