Werbung

Antifa-Arbeit sogar in Ägyptens Wüste

Rainer Holze und Marga Voigt legten einen Band zum geistigen Neuanfang 1945 vor

  • Manfred Weißbecker
  • Lesedauer: 4 Min.

In einer Zeit, in der die medial betriebene Nutzung von Geschichte für jeweils aktuelle Politikziele wellenartig von Jahrestag zu Jahrestag hüpft, erscheinen Publikationen zur jeweils »vorletzten« Themenwelle verspätet, wenn nicht gar überholt zu sein. Dies indessen sollte bei einer der wesentlichsten Zäsuren des 20. Jahrhunderts nicht zutreffen - und der vorliegende Band belegt dies. Zu gewichtig ist einerseits das Thema, andererseits ist es zudem äußerst lesenswert, was Herausgeber und Autoren zu sagen für notwendig halten. Angeschrieben wird hier gegen jene wirkungsmächtigen Deutungen, die den alliierten Sieg über den faschistischen Mächteblock immer noch relativieren und diskreditieren oder ihn mit dem Leiden der Deutschen aufrechnen.

Weit verbreitet ist nach wie vor auch die Auffassung, der 8. Mai 1945 stelle in der deutschen Geschichte eine »Stunde Null« dar. Diesen imaginären Nullpunkt gab es nicht. Mit Recht spricht Günter Benser von einem »Ensemble von Brüchen, Übergängen und Rückgriffen auf vorfaschistische Verhältnisse«. Es gab ihn erst recht nicht im subjektiven Verständnis der Realität. Letzteres - bezeichnet als »geistige Situation« - zu untersuchen war im vergangenen Jahr Anliegen einer Veranstaltung des Berlin-Brandenburger Bildungswerkes e. V. und des Förderkreises Archive und Bibliotheken zur Geschichte der Arbeiterbewegung e. V. Rechtzeitig zum 71. Jahrestag der Befreiung liegt nun das Ergebnis vor, problemreich, quellengesättigt, aufschlussreich und anregend.

Wer weiß, wie schwer die geistige Situation unserer Gegenwart zu bestimmen oder gar zu erklären ist, obwohl doch zahlreiche Ergebnisse gezielter Umfragen, statistischer Erhebungen und deutbarer Wahlergebnisse vorliegen, der wird diesem Unternehmen, das einer weit zurückliegenden Zeit gewidmet ist, große Hochachtung zollen. Nach den beiden einleitenden Beiträgen zu den Ursachen des 30. Januar 1933 und ihrer Spiegelung im zeitgenössischen Verständnis (Rainer Holze, Reiner Zilkenat) sowie der Frage, inwieweit das Jahr 1945 eine Zäsur von weltgeschichtlichem Rang darstellt (Günter Benser), befassen sich weitere 15 Autoren mit speziellen Aspekten. Da finden sich interessante, außerordentlich informative und geschichtliches Denken befördernde Beiträge zu strategisch-taktischen Überlegungen von Sozialdemokraten (Peter Brandt) und Kommunisten (Jürgen Hofmann), ferner detaillierte Ausführungen zur Frauenpolitik nach der Befreiung (Gisela Notz), zum Fortwirken traditioneller Denkweisen in der Intelligenz, die dennoch oft ein praktisches Mitwirken an notwendigen Veränderungen nicht ausschlossen (Siegfried Prokop). Jörg Roesler befasst sich mit der schwierigen Situation der damaligen Flüchtlinge, wobei er aufschlussreiche Vergleiche zwischen dem Geschehen in der sowjetischen und in der britischen Besatzungszone anstellt. Benser erörtert in seinem zweiten Beitrag am Beispiel der Bremer Kampfgemeinschaft gegen den Faschismus die Aktivitäten antifaschistischer Ausschüsse, die basisdemokratisch organisiert waren und oftmals quer zu den Parteien lagen.

Kurt Schneider würdigt das in Leipzig wirkende Nationalkomitee Freies Deutschland sowie die Arbeit Fritz Selbmanns im Antifaschistischen Block der Stadt. Wolfgang Abendroths Bemühungen um eine Auseinandersetzung mit faschistischem Denken junger deutscher Kriegsgefangener im Rahmen seiner legendenumwobenen Lehrtätigkeit an der sogenannten Wüstenuniversität in Ägypten werden von Andreas Diers erinnert. Jörg Wollenberg untersucht das Scheitern demokratischer Sozialisten (darunter Hermann Louis Brill), deren konzeptionelle Vorstellungen über einen politischen, gesellschaftlichen und ökonomischen Neuaufbau nicht in die Rahmenbedingungen eines bereits früh begonnenen Kalten Krieges der Siegermächte passten. Persönliche Rückblicke auf Ereignisse des Jahres 1945 bieten Heinz Sommer und Roger Reinsch, während Günter Wehner Aufsätze von Schülern über ihre Erlebnisse im April und Mai 1945 vorstellt, die er im Landesarchiv Berlin fand.

Obgleich der Band dem Denken und Fühlen unterschiedlicher Gruppen und Personen 1945 gewidmet ist, wurde mit Recht auch ein beachtenswerter Beitrag aufgenommen, der sich mit dem Umgang beider deutscher Staaten mit dem 8. Mai befasst. Trotz mancher Veränderung in den sieben Jahrzehnten nach dem »Tag der Befreiung« sei, so die Schlussfolgerung von Harald Wachowitz, auch heute die Diskussion um ihn nicht beendet.

Wie wahr, schaut man auf das neuerliche Aufleben völkisch-rassistischer Parolen, das Erstarken rechtspopulistischer Bewegungen und die Zunahme neonazistischer Aktionen mit erkennbar zur Schau gestelltem Kult um Hitler.

Rainer Holze/Marga Voigt (Hg.): 1945 - eine »Stunde Null« in den Köpfen? Zur geistigen Situation in Deutschland nach der Befreiung vom Faschismus. Edition Bodoni. 269 S., br., 18 €.

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

- Anzeige -
- Anzeige -