Warten auf den Schnitt

Es ist nicht bekannt, wann dieses Phänomen zum ersten Mal auftrat. Sicher ist nur, dass es sich um etwas Klandestines, im schlimmsten Falle um eine Verschwörung handeln muss.

Vermehrt sind in den letzten Monaten Menschen zu beobachten, die sich kurz nach Sonnenaufgang auf den Weg machen, um dann, um halb neun, vor einem Friseurgeschäft herumzustehen. Sie sind keiner Alterskohorte eindeutig zuzuordnen, weshalb es auszuschließen ist, dass sie für die Dauerwellenflatrate anstehen. Die Wartenden untereinander sprechen nicht, es wird stumm auf den Gehsteig gestarrt. Gemein ist ihnen nur die Durchschnittstarnkleidung in Form von Bundfaltenhosen, 3/4-langen-Trainingshosen, Seidenblousons oder tropfenförmigen Doppelstegbrillen.

Des Weiteren ist zu beobachten, dass es sich hierbei nicht um beliebige Geschäfte handelt. Hippe Zehn-Euro-Wartenummer-ziehen-Salons, in denen laute Technomusik gespielt wird, sind davon gänzlich ausgenommen, genauso wie Läden mit Namen wie »kaisHAIRlich«, »Kamm in« oder »Haarvantgarde«. Möglichst unauffällig muss es sein und: möglichst blickdicht. Das bedeutet, das Innenleben wird dem Beobachter entweder durch eine Gardinen-Jahreszeitendeko-Kombination oder Milchglasfolie versperrt.

Nun bieten sich für den Uneingeweihten zwei Möglichkeiten der Interpretation an. Die eine, etwas billige, ist, dass der Berliner, seit es die ordentlichen, jahreszeitlich organisierten Schlussverkäufe nicht mehr gibt, des Anstehens entwöhnt ist und sich jetzt nach Substituten sehnt. Der Mainstream versucht es beim Verkaufsstart des neuen iPhones oder bei der Ausstellung eines uralten Saurierskeletts. Wer richtig drauf ist, der versucht zu Weihnachten, ein Paket zu verschicken oder steht vorm Discounter, der die erheblich günstigere Variante des Thermomix feilbietet - oder seit Neuestem im Trend: Warten ohne ersichtlichen Grund vor dem Friseur. Alles fing mit einem an, der auszog, um grundlos warten zu können. Als einziges Geschäft, das sich dem wahnsinnigen Wettlauf um den ersten Kunden entzog, blieb nach Fitnessstudio, Pizzarestaurant und Videothek irgendwann nur noch der Friseursalon auf der Ecke übrig, der erst um neun Uhr öffnet.

Die andere Möglichkeit ist, dass es sich hierbei um ein weitestgehend unentdecktes Geschäftsmodell der Crystal-Mafia handelt, die, inspiriert von der Serie »Breaking Bad«, ein für die Ermittler möglichst absurdes Lagerungssystem zum Vertrieb der Ware aufgebaut hat. Die Menschen, die man nie reingehen (wie machen die das?) und erst recht nicht wieder rauskommen sieht, tauschen dann ihren Durchschnittstarnfleck in ein pink-farbenes Essenslieferanten-Outfit, mit dem sie seit Wochen als Fahrradkurier getarnt durch die ganze Stadt düsen. Ein ausgeklügelter Plan. Es ist daher kein Wunder, dass die Berliner Polizei Crystal Meth bis vor Kurzem noch als irrelevant für die Berliner Drogenszene einstufte.

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