»Von links kommen heute keine Visionen«
Die Soziologin Sabine Pfeiffer über Roboter, Irrtümer der Digitalisierungsdebatte und die Arbeit der Zukunft
Industrie 4.0, Digitalisierung, Roboterisierung, künstliche Intelligenz, lernfähige Maschinen - was wir da gerade erleben, ist das eine Evolution oder eine Revolution?
Sabine Pfeiffer: Ich bin unsicher. Wissen Sie, da geht es auch um technische Entwicklungen, die bahnen sich seit 20 Jahren an. Aber erst heute geraten viele von denen als neu in den Blick der Öffentlichkeit. Natürlich gibt es auch Sprünge. Ein Beispiel: Seit das erste iPhone auf dem Markt ist, hat sich das mobile Internet in großen Wellen verbreitet und auch weiterentwickelt. Mit diesem Produkt hatten sogar technikaffine Menschen, ich bin einer, das Gefühl, das ist eine neue Welt. Aber technisch hatte sich das seit etwa 20 Jahren angebahnt. Fachleute konnten also nicht überrascht sein. Trotzdem haben auch viele Unternehmer erst richtig hingeschaut, als dieses Gerät auf dem Markt war, und gestaunt: Mensch, da könnte es ja ganz neue Geschäftsmodelle geben. Und in der Robotik tut sich auch wirklich eine ganze Menge Neues. Allerdings: So intelligent wie die Roboter gerne dargestellt werden, sind sie noch lange nicht.
Noch einmal: Evolution oder Revolution?
Wir stehen an einer Schwelle zu einer Welt, in der sehr viel mehr technisch möglich ist als zuvor. Wo wir genau stehen, das werden wir erst in der Rückschau sagen können. Neu ist seit zwei, drei Jahren, dass dieses Thema der neuen Techniken von der Industrie selbst, also den Unternehmen und ihren Verbänden, und der Politik richtig gepusht wird. Themen, die vor drei, vier Jahren nur in IT-Blogs debattiert wurden, stehen heute in der Zeitung. Diese Neuerungen werden buchstäblich herbeigeredet. Ob sich alle Erwartungen - oder Befürchtungen - erfüllen, das wird sich erst noch zeigen.
Sabine Pfeiffer ist seit Anfang 2014 Professorin für Soziologie und empirische Sozialforschung an der Universität Hohenheim. Sie arbeitet unter anderem in mehreren empirischen Projekten intensiv zu den Themen Industrie 4.0 und Arbeit 4.0. Zuvor war sie Professorin für »Innovation und kreative Entwicklung« an der Hochschule München. Sie hat auf dem Zweiten Bildungsweg Abitur gemacht und Soziologie, Psychologie und Produktionstechnik studiert. Von 1983 bis 1986 machte sie eine Ausbildung zur Werkzeugmacherin. Danach arbeitete sie mehrere Jahre in Unternehmen. Mit ihr sprach Wolfgang Storz.
Was meinen Sie mit Herbeireden?
Wir machen gerade ein empirisches Projekt im Maschinenbau. Da gibt es Unternehmen, die entwickeln für die kommende Messe konkrete Maschinen-Produkte. Ich frage die Entwickler dort, warum entwickeln sie das jetzt? Denn rein technisch gesehen hätten sie dieses neue Produkt schon vor fünf Jahren entwickeln können. Damals haben sie es aber nicht gemacht. Und dann sagen die: Wir alle haben das Gefühl, da passiert gerade was, und wenn wir das jetzt nicht machen, dann machen es die anderen und wir sind abgehängt. Wir dürfen das nicht verpassen. Und wenn ich dann frage: Ja, haben Sie für das neue Produkt schon Kunden, gibt es einen Bedarf? Dann sagen die: Das wissen wir noch nicht genau. Das heißt, im Maschinenbau werden heute neue Produkte entwickelt, von denen die Unternehmen weder wissen, ob es mal den Bedarf geben wird, noch ob sie damit mal richtig Geld verdienen werden. Das ist für diese Branche, die sonst nah am Kunden ist, eher ungewöhnlich. Ist das nun innovativ und disruptiv? Oder einfach fahrlässig? Das bleibt abzuwarten.
In den letzten 20 Jahren redeten fast alle von der Dienstleistungsgesellschaft, heute von Industrie 4.0. Gibt es eine Renaissance der Industrie?
Das finde ich das Schöne an dieser öffentlichen Debatte. Es wird wieder wahrgenommen, dass es eine echte Produktionssphäre gibt, wo richtige Menschen arbeiten. Darin liegt aber auch der Grund für das große Staunen der Öffentlichkeit und warum so schnell von einer industriellen Revolution geredet wird: Mindestens 20 Jahre lang blickten die meisten Menschen auf die Dienstleistungsgesellschaft und nicht auf die Industrie. Sie wurde bestenfalls als Umweltverschmutzer wahrgenommen oder als von Verlagerung bedrohtes Auslaufmodell. Dass wir in Deutschland einen bedeutenden und hoch innovativen industriellen Sektor haben, war lange aus dem Blick der Öffentlichkeit und auch der Politik verschwunden. Deswegen haben viele auch nicht wahrgenommen, was dort in den vergangenen Jahren ständig an technischer Weiterentwicklung und Digitalisierung gelaufen ist.
Gibt es halbwegs verlässliche Studien und Schätzungen, wie sich die Industrie wegen der Digitalisierung in den kommenden zehn Jahren verändern wird?
Eine Studie von Carl Benedikt Frey und Michael A. Osborne rechnet mit 47 Prozent an Arbeitsplätzen, die wegfallen. In der gleichen Logik rechnen andere für Deutschland damit, dass 42 Prozent aller Arbeitsplätze wegfallen. Ich bin da skeptisch. Zumal diese Studie auch anfechtbar ist: Es wurden letztlich sehr wenige Experten gefragt, welche Berufe wegfallen könnten. Die Aussagen sind also meines Erachtens mit Vorsicht zu genießen. Richtig unseriös ist die Studie des Davos World Economic-Forum. Befragt wurden dafür etwa 370 Personalvorstände von großen Unternehmen weltweit. Das ist alles.
Warum unseriös?
Viele dieser Studien unterschätzen die Interessen der Unternehmen und deren Probleme, neue Techniken im Alltag einzusetzen. Es wird ja nicht alles umgesetzt, was die Technik erlaubt und ermöglicht. Die Unternehmen fragen sich doch ganz nüchtern: Was kostet mich das, was bringt mir das. Ich denke, jeder Mensch weiß doch, Automatisierung wird überwiegend gemacht, um Arbeitsplätze abzubauen, also um die als teuer empfundene Arbeit zu verringern. Warum denn sonst? Das sind die entscheidenden Fragen.
Stimmt die These: Bei den anstehenden Rationalisierungen werden eher die einfachen Arbeitsplätze abgebaut, die anspruchsvollen nicht oder weniger?
Das Schlüsselwort lautet Standardisierung. Die Arbeitsschritte, die in Teilen oder in Gänze bereits standardisiert sind, die können am problemlosesten von einer Maschine, einem Roboter oder einem Algorithmus übernommen werden. Und diese Standardisierung wird systematisch vorangetrieben, gerade von den weltweit agierenden Konzernen. Jeder Konzern versucht, seine Produktionsabläufe so zu vereinheitlichen und zu vereinfachen, dass sie in Indien funktionieren wie hier in Deutschland. Nun ist aber die entscheidende Frage: Was ist eine einfache Arbeit?
Wie fällt Ihre Antwort aus?
Wir haben noch ein Bild, dass vor allem Arbeiten an der Maschine und in der Produktion einfach seien. Und die Arbeit in der Verwaltung und die des Angestellten sei eher anspruchsvoll. Angestellte werden auch recht schnell den kreativen Wissensarbeitern zugeordnet. Nach diesen Kriterien werden die Arbeiten und Arbeitsplätze in den Beschäftigtenstatistiken immer noch erfasst. Dieses Bild stimmt aber schon lange nicht mehr. Denn seit Jahren zeigt es sich, dass vor allem im Angestelltenbereich viele Arbeiten standardisiert werden. Die können jetzt auch leichter technisch ersetzt werden.
Und in der Produktion?
Im Produktionsbereich, in dem es letzten Endes um das Stoffliche geht, da muss am Ende doch noch ein erfahrener kompetenter Mensch an die Maschine ran, um den letzten entscheidenden Handgriff zu tun oder um etwas Wichtiges zu überwachen. Ich gehe davon aus, dass in den Kernbereichen industrieller High-Tech-Produktion, wo komplexe Produkte hergestellt werden und wir heute schon einen hohen Automatisierungsgrad haben, nur noch wenige Arbeitsplätze abgebaut werden. Denn dort wurde bereits in den vergangenen Jahren fast alles durchautomatisiert. Es kann sogar sein, dass dort Arbeitsplätze inhaltlich aufgewertet werden. Wenn es Neuerungen in der Vernetzung und Verarbeitung von Daten gibt, dann brauchen die Unternehmen dort Techniker, Informatiker und Mathematiker. Diese brauchen aber gleichzeitig produktionstechnologisches Know-how. Letztlich wird künftig jeder Job eine digitale Komponente haben. In den Verwaltungen, in den Angestelltenbereichen und an den Rändern der Produktionssphäre dagegen, also beispielsweise in der Logistik, wird es starke Rationalisierungen geben in den kommenden Jahren.
So werden vor allem auch in den öffentlichen Verwaltungen Arbeitsplätze abgebaut werden?
Die Debatte, was wird in zehn Jahren sein, die ist fruchtlos. Entscheidend ist das Heute: Wie und wo setzen wir diese Techniken ein? Mit welchen Zielen? Wie wollen wir also die Arbeit der Zukunft gestalten. Das können wir doch entscheiden, also die Gesellschaft und die Politik.
Mit all den Robotern und den Rationalisierungen müsste es doch erhebliche Produktivitätszuwächse geben und damit ein Potenzial, um die Arbeitszeiten radikal zu verringern.
Rein rechnerisch auf jeden Fall. Da gibt es auch Berechnungen, unter anderem von Gerhard Bosch vom Institut für Arbeit und Qualifikation. Interessant ist jedoch, dass genau diese Debatte nicht hochkommt. Das finde ich spannend. Warum ist das so? Es geht in eine ganz andere Richtung: Arbeit wird so gestaltet und umgestaltet, dass sie sich nicht mehr wie entfremdete Lohnarbeit anfühlt, obwohl sie es unverändert ist. Die Beschäftigten sollen sich so wohl fühlen, dass sie gerne mehr Zeit im Unternehmen oder an ihrem Arbeitsplatz verbringen. In vielen Bereichen scheint dies ja auch so zu sein. Wir haben, erzwungen oder freiwillig oder in einer Mischung von beidem, eine unglaubliche Intensivierung der Arbeit. Die Positivdarstellung von Arbeit ist ja der Hipster, der mit dem Mac unter dem Arm sein Café in der Sonne ansteuert.
Aber das ist eine kleine Schicht. Die Krankenschwester und der Industriearbeiter sehen das anders.
Richtig. Aber die Beispiele zeigen, wir reden wieder intensiver über Arbeit und deren Gestaltung, nicht über kürzere Arbeitszeiten. Und wir reden nur über bestimmte Arbeiten, eben nicht über die Busfahrerin, den Produktionsarbeiter, den Sachbearbeiter und die Altenpflegerin. Wir reden meist über die Extreme: entweder den Kreativen, der nur noch arbeiten will, oder über die Crowdworker, die unter extrem unsicheren und schlechten Bedingungen schuften. Über die große Mitte der Beschäftigten mit einer normalen Arbeit reden wir am wenigsten.
Industrie 4.0 ist seit zwei, drei Jahren ein großes Thema. Konzerne, Unternehmensverbände, Beratungsunternehmen, auch die Politik mischen aktiv mit. Erkennen Sie, wer diese Debatte mit welchem Ziel führt?
Ich habe mal die Studien und wichtigen Veröffentlichungen genauer nach Gemeinsamkeiten angeschaut. Es scheint mir offensichtlich zu sein, dass vor allem das World Economic Forum und die großen weltweit tätigen Beratungsunternehmen mit der Digitalisierung eine Vision verbinden und diese auch ganz offen kommunizieren: Sie wollen die Wirtschaft dieser Welt und damit die Welt selbst wie einen einzigen Konzern managen. Alles soll vernetzt werden, möglichst viele Produktionsstätten sollen so standardisiert werden, so dass sie in Italien, Brasilien und Indien und Deutschland weitgehend gleich funktionieren. Geredet wird dabei von einer »Digital Workforce«. Damit sind Arbeitskapazitäten gemeint, die sich je nach Bedarf quasi unterschiedslos zusammensetzen aus Algorithmen, Robotik und echten Menschen.
…. also zwischen diesen Dreien gibt es dann fließende Übergänge?
Genau, ob Mensch, Maschine oder Algorithmus, das wird alles auf einer Ebene gesehen. Ziel ist es, dass jede Workforce die irgendwo auf der Welt gerade gebraucht wird, auch zur Verfügung gestellt werden kann. Workforce on demand. Alles auf Abruf, nach Bedarf und in den verschiedensten Zusammensetzungen. Und wenn die Arbeit getan ist, dann hat diese Workforce ihre Schuldigkeit getan. Sie wird aufgelöst, für den nächsten Einsatz neu zusammengesetzt. Das ist die eine Seite der Vision. Und die andere Seite: Es gibt eine ausgearbeitete Roadmap, also einen Fahrplan, was die Politik zu tun hat, um diesen Zustand zu erreichen. Da gibt es eine technisch-sachliche Ebene dieses Fahrplans: Also man braucht weltweit eine entsprechende Infrastruktur, beispielsweise überall leistungsfähige Netze, um die Digitalisierung und Robotik auch weltweit einsetzen und durchsetzen zu können. Der Politik wird die Aufgabe zugeschrieben, diese Infrastruktur zu schaffen. Und die zweite Ebene: Die Politik soll dafür sorgen, dass die Arbeitsmärkte weiter dereguliert, Schutzvorschriften und Regeln abgebaut werden.
Ist das Größenwahn oder wird das von machtpolitisch relevanten Leuten betrieben?
Es gibt zwei Ebenen. Weltweit aktive Konzerne arbeiten seit Jahren in diese Richtung. Sie standardisieren und vereinheitlichen ihre Arbeits- und Produktionsprozesse weltweit auf Teufel komm’ raus. Das klappt zwar alles nicht bruchlos und ohne Konflikte, aber das wird strategisch betrieben. Und diese weltweit agierenden Beratungskonzerne, die meinen das mit dieser Vision schon ernst. Es ist doch sehr bemerkenswert, dass heute große Visionen, egal wie ich sie bewerte, von den Unternehmensberatungsfirmen kommen und nicht von linken Parteien und Gewerkschaften oder anderen gesellschaftlichen Kräften.
Und wie realistisch ist das?
Diese Visionen unterschätzen systematisch die technischen und organisatorischen Schwierigkeiten und die politischen Widerstände, die solche Umwälzungen ja vielleicht auch mit sich bringen. Da werden sich einige auch blutige Nasen holen. Vieles, was da geplant und gedacht wird, ist auch ökonomisch nicht sinnvoll. Vieles wird viel länger dauern. Die Vision wird in Reinform nie Wirklichkeit werden. Entscheidend ist meines Erachtens etwas anderes: Die haben eine Vision, die eine Richtung vorgibt. Sie gibt Orientierung und ist Leitlinie für das praktische Handeln vieler einflussreicher Organisationen. Damit wird sie heute wirksam, auch wenn sie sich morgen nicht in Gänze verwirklicht.
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.