Alfred Kurella, geb. 1895, gest. 1975, seit 1918 Mitglied der KPD (Foto um diese Zeit), wurde von der Partei nach Moskau geschickt. Dort war er Sekretär der Jugendinternationale, in Paris Direktor der Parteischule der FKP, danach weitere Arbeit als Berufsrevolutionär in Moskau, Berlin und Paris. 1954 Übersiedlung in die DDR: Direktor des Instituts für Literatur, Kandidat des Politbüros, Vizepräsident der Ostberliner Akademie der Künste.
Er war einer der buntesten Vögel unter den Spechten, Hähern, Blauracken und Fasanen, die sich am 11. und 12. Oktober 1913 auf dem Hohen Meißner bei Kassel versammelt hatten. Hier und da kannte man ihn schon. Im Bonner Wandervogel gab er den Ton an und in wenigen Wochen sollte sein Wandervogel-Lautenbuch herausgebracht werden, in dem er zu den Texten vergessener Volkslieder die Tonsätze für die Laute neu arrangiert und notiert hatte, schwierige Griffe oft, die ihm manch Wandervogelkamerad übel nahm, doch bei den ernsthafteren unter ihnen erntete er viel Lob.
Von den 800 Goldmark Honorar für die erste Auflage seines Liederbuches hatte er sich eine Laute mit neuartigen Griffbrettern anfertigen lassen, die er meisterhaft zu spielen verstand, und von einem Schneidermeister nach eigenem Entwurf einen Anzug aus violettem Samt anmessen lassen. Zu Wadenstiefeln, eng geschnalltem Gürtel und weißem Seidenhemd mit großem übergelegtem Schillerkragen trug er einen Kranz Hagebutten im Haar. So in Samt, Seide und Natur war er überall dort zu finden, wo Menschen sich versammelten.
Wenn er mit asketisch schmalem Gesicht, Scheitel links und leuchtenden Augen im Kreis seiner Anhänger stand, hingen sie gebannt an seinen schmalen Lippen. Von Zeit zu Zeit geriet er in Schwierigkeiten, vor allem bei den Buchstaben »k« und »r«. Er, der später in Französisch, Russisch und Deutsch zu einem der atemberaubendsten politischen Redner wurde, war Stotterer von Kind an. Doch das Handicap, verschlimmert bei einer Verschüttung im Ersten Weltkrieg, hatte er gelernt, weitestgehend zu unterdrücken, und es beeinträchtigte nicht im mindesten sein Selbstbewusstsein.
»Der Wandervogel«, predigte er in seinem Wandervogel-Lautenbuch, »hat ohne Zweifel viel für die Wiederaufnahme der Laute in die deutsche Hausmusik beigetragen. Aber er hat auch eine Schuld dabei auf sich geladen: Ihm ist es zuzuschreiben, dass die Laute anfängt Modeinstrument zu werden, dass es bald zum guten Ton gehört, ein wenig auf der Laute klimpern zu können. So geht nun das Büchlein hinaus, seine doppelte Aufgabe zu erfüllen: Im Wandervogel zur Vertiefung des Verständnisses für die Laute ... beizutragen und den Außenstehenden wieder einmal ein Stück vom Wandervogel und seiner Arbeit zu zeigen.«
Über dem Festplatz lag ein leichter Schleier Rauch. Der stammte von den vielen Kochstellen an den Hängen des Kuppelberges, wo die versammelten Vereine ihre Zelte aufgeschlagen hatten. »Freie Schulgemeinde Wickersdorf«, »Deutsche Akademische Freischar« und viele andere Respekt einflößende Namen von Vereinigungen der Deutschen Jugendbewegung vor dem Ersten Weltkrieg warben um Aufmerksamkeit bei den aus ganz Deutschland herbeigewanderten Jugendlichen, unter ihnen Alfred Kurella, da war er 17.
Der »Deutsche Bund abstinenter Studenten« war gegründet worden im Protest gegen die schlagenden studentischen Verbindungen. Der »Deutsche Vortruppbund«, 1913 in 140 Ortsgruppen organisiert, hatte sich als »freie Tatgemeinschaft« die Aufgabe gestellt, für die Gesundung der Bevölkerung zu werben, um kommenden Generationen ein gesundes und stabiles Land zu sichern. Der »Wandervogel e. V.«, in dem sich 1912 mehrere konkurrierende Wandervogelbünde zusammengeschlossen hatten, konnte auf 17770 Mitglieder zählen, das waren 15470 Jungen und 2300 Mädchen, hinzu kamen 8010 Erwachsene aus Eltern- und Freundesräten, die Zeitschrift »Der Wandervogel« erschien in 25 000 Exemplaren.
Das war die Welt des jungen Kurella. Auch Erwachsene waren erschienen, um sich zur Jugendbewegung zu bekennen. Der 41-jährige Philosoph Ludwig Klages ergriff Partei gegen den so genannten Fortschritt und erinnerte an Berichte von Polarforschern, denen Pinguine, Rentiere, Seelöwen, Robben und andere Wildtiere des hohen Nordens zutraulich entgegengekommen waren. Allein dort, wo der Fortschrittsmensch die Herrschaft antrat, habe er ringsum Mord gesät.
Die 44-jährige Tilsiter Schriftstellerin Gertrud Prellwitz, die in Romanen und Bühnenstücken die Erneuerung des klassischen Stils erstrebte, rief ihre Zuhörer, die sie »ihr jungen, freudigen Frühlingskräfte« nannte, dazu auf, sich nicht auf eine vorzeitige Ehe einzulassen, die ihnen als etwas »Todfremd-Feindliches« vor Augen stehen müsse, und sich stattdessen der freien Liebe anzuvertrauen, die »aus dem Dunkeln ins Helle« strebe. Der 37- jährige Dichter Herbert Eulenberg dichtete den Versammelten den Festgruß:
Ich grüße die Jugend, die nicht mehr säuft,/ Die Deutschland durchdenkt und Deutschland durchläuft,/ Die frei heranwächst, nicht schwarz und nicht schief./Weg mit den Schlägern, seid wirklich aktiv,/ Das Mittelalter schlagt endlich tot!/Ein neuer Glaube tut allen not./ Bringt Humpen und Säbel zur Rumpelkammer,/Verjagt den Suff und den Katzenjammer/Und alles, was Euch verfault und verplundert!/ Auf, werdet Menschen von unserm Jahrhundert.
Und der 46-jährige Verleger Eugen Diederichs verglich den Ersten Freideutschen Jugendtag 1913 auf dem Hohen Meißner mit Fichtes Bund der freien Männer in Jena: »Was ist aus jenen Jünglingen alles geworden! Lauter Menschen, die dem Leben ihren Stempel aufgedrückt haben. Einfach, weil sie über ihr eigenes Ich hinauskamen zu großen Zielen.«
Ein halbes Jahrhundert später, am 20. März 1966, wird Alfred Kurella, inzwischen Direktor des Literaturinstitutes der DDR, sich dieses Tages auf dem Hohen Meißner vor so vielen Jahren erinnern, wenn er auf Burg Ludwigstein bei Kassel seine Rede hält, in der er sich als Schüler Gustav Wynekens zu erkennen gibt, den er mitten unter der Freideutschen Jugend kennen gelernt und der später als Denker und Mensch bedeutenden Einfluss auf seine geistige und moralische Bildung gehabt habe. Durch Wyneken sei er mit Hegel bekannt geworden, dessen Einfluss ihn sein ganzes Leben begleitet habe. Durch Wyneken sei er aber auch auf die Schriften Franz Müller-Lyers gestoßen, deren Studium ihn zu einem tieferen Verständnis des Menschen in seinen gesellschaftlicher Beziehungen führte.
Und was erzählte Sonja, Kurellas letzte Ehefrau, vom Treffen der Wandervögel 1966 auf Burg Ludwigstein bei Kassel? Da seien alte Leute, abgezehrt und abgerissen wie eh und je, zu Fuß dorthin gekommen, und andere mit dem Mercedes. Komisch dabei sei gewesen, dass die mit dem Mercedes darüber diskutierten, ob zwei Mark für die obligatorische Linsensuppe nicht zu teuer seien. Die Abgerissenen dagegen, denen es nie im Leben gut gegangen war, hätten schweigend gezahlt. Sie alle hätten in der Jugendbewegung von 1913 gelebt. Andauernd sei es um Teddy hier und Teddy da gegangen, bis die junge Ehefrau mitkriegte, dass Kurella vor dem Ersten Weltkrieg im Wandervogel unter dem Namen Teddy bekannt war, wie ihn Eltern und Geschwister seit frühen Kindertagen riefen. Eines Tages, als Kurella schon Rang und Namen hatte in der DDR-Politik, stand vor dem Haus ein buntbemalter VW-Käfer und im Garten ein Zelt. Einer der alten Wandervögel aus Kurellas Zeit vor dem Ersten Weltkrieg war gekommen, um zu sehen, wie es dem alten Freund ginge.
Aber Moment mal, Moment! Gustav Wyneken? Hier fiel doch eben sein Name. Wer kennt denn heute noch diesen Mann, den Kurella so sehr verehrte, dass er ihn viele Jahre nach dem Hohen Meißner lobend herausstrich? 1913 auf dem Freideutschen Jugendtag war er 38 Jahre alt und hatte ein paar Jahre zuvor die »Freie Schulgemeinde Wickersdorf« gegründet, deren erzieherischer Gedanke darin bestand, junge Menschen zu veranlassen, sich aus der Enge des kaiserlichen Untertanenverhältnisses zu befreien: Der Unterinspektor zog schon von weitem devot den Hut, wenn er auf der Straße dem Oberinspektor begegnete, während der im Gegengruß nur lässig die Hutkrempe berührte. Ein Bankschwengel sprach zu einem Handwerker im strengen Ton des Vorgesetzten. Der Handwerker ließ diese Demütigung am Gesellen aus, und ganz unten am Ende der Skala standen die Kinder, die niemand unter sich hatten und gar keine Rechte besaßen. Die Schule als Stätte der Lebensformung umzugestalten war Wynekens Ziel. Dementsprechend lauteten die Titel seiner zahlreichen Bücher und Schriften wie zum Beispiel: »Was ist Jugendkultur«, »Der Kampf für die Jugend«, »Schule und Eros«, »Revolution und Schule«. Beim Ersten Freideutschen Jugendtag 1913 auf dem Hohen Meißner war er einer der Hauptredner.
Und wer, zum Teufel, ist Franz Müller- Lyer? Von Kurella hätte man erwartet, die Namen von Marx und Engels als erste Lehrmeister zu hören. Stattdessen Wyneken und Müller-Lyer? Franz Müller-Lyer lebte von 1857-1916, und ist Wyneken heute wenigstens dem kleinen Kreis Pädagogik-Historikern bekannt, so ist Müller-Lyer heute ganz vergessen. Um die vorige Jahrhundertwende allerdings war er ein weithin berühmter Aufklärer. Der Arzt und Philosoph war in seinen Überlegungen der Frage nachgegangen, wo die Ursachen für die Leiden des Einzelnen zu suchen seien, und er fand sie in den gesellschaftlichen Zuständen seiner Zeit. Er war der erste, der erkannt hatte, dass die Familie durch Arbeitsteilung, Erziehung und Berufswahl im Verlauf der neuesten Geschichte eine Funktion nach der anderen an den Staat verloren habe. Auf Müller-Lyer berief sich Gustav Wyneken, als er seine Theorie von der Selbstbestimmung der Jugend ohne staatlichen Erziehungsterror entwickelte.
1913 auf dem Hohen Meißner war einer der Redner auf eine Kiste gestiegen: »Wo der Fortschrittsmensch die Herrschaft antrat, hat er ringsum Mord gesät und das Grauen des Todes. Man kennt in Deutschland mehr als 200 Gemeindenamen, die vom Biber stammen, ein Beweis für die Ausbreitung des fleißigen Nagers in früherer Zeit. Heute gibt es nur hier und da eine kleine Restkolonie. Unter dem Vorwand, er sei schädlich, wurde er ausgerottet.«
»Die Pariser Putzmacherinnen verarbeiten jedes Jahr bis zu vierzigtausend Seeschwalben und Möwen«, hörte Kurella, »ein Londoner Händler verkaufte im vorigen Jahr zweiunddreißigtausend Kolibris und achtzigtausend verschiedene Seevögel. Damit die Federn ihren Glanz bewahren, werden die Vögel lebendig gerupft. Deshalb macht man auf Vögel nicht mit der Flinte Jagd, sondern mit dem Netz. Das ist das Tun der Menschheit, die sich gesittet und christlich nennt.«
»Jahrtausendelang durchstreiften endlose Büffelherden die endlosen Prärien Nordamerikas«, drang es an Kurellas Ohr, »bis Christen aus Europa herüberkamen und dem Paradies auf Erden ein Ende machten. Sie rotteten aber nicht nur den Büffel aus, sondern auch die Ureinwohner des Kontinents, um sich die Reichtümer der "Wilden" anzueignen, wie sie die Menschen anderer Hautfarbe und anderer Religion nannten. Die tapfersten Negervölker, die sebstbewusstesten Polynesier, die gottesfürchtigsten asiatischen Völker, die sich standhaft gegen die Übermacht des christlichen Zündnadelgewehrs zu behaupten gewusst hatten, wurden schließlich mit den allerchristlichsten Waffen, mit Syphilis, Schnaps und Opium vernichtet...«
Die Sonne war untergegangen, die Umrisse der Berge verblauten im Düster. Für Kurella hatte eine neue Zeitrechnung begonnen.
»Ich stamme aus einer bürgerlichen Familie«, hat Kurella 1954 in einer 14-seitigen kurzen Selbstbiografie mitgeteilt, »die Deutschland im Laufe vieler Generationen Intellektuelle, Gelehrte und vorwiegend Ärzte gegeben hat.« Einer dieser Vorfahren, Ernst Gottfried Kurella, 1725-1799, hat neben dem Schleim lösenden »Kurellaschen Brustpulver« (pulvis pectoralis kurellae: Sennisblätter, Süßholzwurzeln, Fenchelsamen und Schwefelblumen in verschiedenen pulverisierten Anteilen) auch eine Streitschrift gegen die Kurpfuscher und Quacksalber seiner Zeit veröffentlicht. Das Buch befindet sich noch heute in Kurellas Hinterlassenschaft. Ein noch früherer Kurella war ein Freund Lessings..., so stolz war Alfred Kurella auf seine bürgerliche Herkunft, dass er in intimem Kreis oft davon erzählte.
Zu Beginn des Ersten Weltkrieges, Kurella hatte sich freiwillig zu den Kanonieren gemeldet, um nicht zur Infanterie gezogen zu werden, notierte seine Mutter: »Von Teddy höre ich, dass er wegen eines unbedeutenden innerlichen Leidens im Lazarett läge. Von ihm selbst weder Brief noch Karte...« »Endlich Nachricht. Wie es aussieht, hat er die Sprache verloren. Mein Gott, die Sprache kann man wohl eine Weile verlieren. Schlimmer wäre ein Schuss durch den Kopf. Ich fürchte nur, man sagt mir nicht die Wahrheit, denn wieso liegt einer, der die Sprache verloren hat, auf der Inneren Station?...«
»Über Teddy bin ich nun ziemlich beruhigt. Hätte ich von Anfang an gewusst, um was es sich handelt, hätte ich mir diese Tage voll unbeschreiblicher Aufregung sparen können. Die Sprache wird schon wiederkommen. Der arme, arme Kerl muss sehr stark mitgenommen sein. Mir selbst geht es nicht gut. Mein Stottern hat sich verschlimmert ungefähr so, wie in der ersten Zeit in Dottendorf...«
»Gestern Abend spät klingelts. Eine Depesche: Bin im Lande, komme 30. bis 31. Näheres folgt. Teddy. Wie schön wird es sein, sein Gesichtl wieder zu sehen. Wenn ich bloß ein bissel Munterkeit aufbringen könnte...« »Wir sind alle schon in unglaublicher Spannung auf Teddy. Annchen und Tannchen haben heute in aller früh Laub und Blumen aus der Markthalle geholt, und sind geschäftig dabei, es überall zu verteilen. Das Laub über der Tür soll erst angebracht werden, wenn wir wissen, wann er kommt. Vielleicht heute Nacht...«
»So, jetzt ist er wieder fort. Wie ein Blitz war er da. Jetzt reist er schon von Köln nach Lille. Heute Abend muss er sich bei seiner Truppe melden...«
»Teddy sah gut aus, breit, muskulös gebaut, aber doch nicht gesund. Eine unendliche Müdigkeit lag in seinem Wesen. Wo ist sein elastisch, tanzender Schritt geblieben? Vor wenigen Stunden ging er in ungeheuerlichen Kanonenstiefeln mit schwerem, breitem Kanoniersschritt, den gewaltigen Schleppsäbel an der Seite, müde von dannen. Dabei war seine Art zu sprechen sanfter geworden. Natürlich hat er uns nur lustige Geschichten erzählt, besonders von seinem ewig besoffenen Hauptmann, der als guter Artillerist immer kanonenvoll wäre und dann merkwürdigerweise immer am besten zielte. Aber in seinen lieben, alten, schönen Augen liegt doch hauptsächlich Ernst und Schwermut...« Mein Gott, wer hätte das gedacht. Nur ein paar lumpige Tage. Und er hatte Erholung so sehr nötig...«
Und ein Jahr später nach Kurellas Entlassung aus dem Militärdienst: »Teddy ist augenblicklich in dem Zustand, dass er am liebsten die ganze Welt auf den Kopf stellen möchte. Und da ich nicht immer seiner Meinung bin, bin ich natürlich bei ihm unten durch. Es lohnt nicht, in seine Gedankenwelt eindringen zu wollen, weil ich sie doch nicht verstehen würde.«
Das war das Jahr, als Kurella Verbindung zu einem kleinen Kreis illegaler proletarischer Jugendlicher aufnahm. Der kriegsverwundete 22-jährige stotternde Veteran mit dem EKII im Knopfloch und dem unbezähmbaren Drang, sich mitzuteilen, wurde gleich von allen respektiert. Mit ihm an der Spitze verbreiteten sie illegale Schriften und Flugblätter gegen den Krieg und für eine freie deutsche Jugend, studierten Marx und Engels, und es dauerte nicht lange, bis ein Hochverratsverfahren gegen ihn eingeleitet wurde. Der Bürgersohn, der stolz darauf war, seine Klasse verraten zu haben, musste sich in den letzten Monaten des Krieges verstecken.
Als er sich nach der Flucht des Kaisers wieder sehen lassen konnte, gründete er in München die Ortsgruppe der »Freien sozialistischen Jugend«, und das Schicksal nahm seinen Lauf.