Durchaus immer deutsch

Theatertreffen Berlin: »Stolpersteine Staatstheater« vom Badischen Staatstheater rekonstruiert NS-Geschichte

  • Thomas Blum
  • Lesedauer: 5 Min.
Deutsches Bürokratietheater aus dem echten Leben: Das im Rahmen des Berliner Theatertreffens aufgeführte Dokumentarstück »Stolpersteine Staatstheater« beschäftigt sich mit der Entrechtung jüdischer Schauspieler im Nationalsozialismus.

»Das Wandern ist des Müllers Lust«, das weiß man ja hierzulande. Was man nicht sicher weiß, ist, wie sich zur Zeit des Nationalsozialismus - und um sie geht es hier - für die zur Deportation Bestimmten das Wandern von der Wohnung zum Bahnhof angefühlt hat. »Im Salzkammergut, da kann man gut lustig sein / Wenn die Musi’ spielt, holdrio!« Im Salzkammergut, wo man gut lustig sein kann, ist auch das NS-Konzentrationslager Ebensee zu finden, in dem zwischen 1943 und 1945 Tausende von Häftlingen ermordet wurden.

»Lass uns Abschied nehmen mit lächelndem Gesicht / Aber trotzdem schämen der Tränen wir uns nicht / Denn es kann doch keiner die Antwort geben dort / Wann oder wie oder ob er wiederkommt / Wann oder wie oder ob er jemals wiederkommt!« Außer der alten Weise vom lustig wandernden Müller und dem Salzkammergut-Stimmungslied hören wir auch diese Verse aus dem beliebten Singspiel »Im weißen Rössl«. Sie entstammen einem neckischen Liebeslied des Textdichters und Komponisten Robert Gilbert. Und wenn man weiß, dass Gilbert aufgrund der NS-Rassengesetze wie unzählige andere in den 30er Jahren emigrieren musste und so dem sicheren Tod im Konzentrationslager entging, erhalten seine Verse vom Abschiednehmen und von der Ungewissheit der Rückkehr heute eine ganz andere Bedeutung.

Mit solchen Ambivalenzen arbeitet das Dokumentartheaterstück »Stolpersteine Staatstheater« von Hans-Werner Kroesinger und Regine Dura, in dem es hauptsächlich um das Leben und Schicksal von vier ehemaligen Angestellten des Badischen Staatstheaters Karlsruhe geht: der Souffleuse Emma Grandeit, der Operettensängerin Lilly Jank und der beiden Schauspieler Paul Gemmecke und Hermann Brand. Wie viele andere Juden, Jüdinnen oder mit Juden Verheiratete wurden sie Anfang 1933 zunächst »beurlaubt«, später von den lokalen nationalsozialistischen Kulturfunktionären entlassen und entrechtet, noch später dann finanziell ausgeplündert und ins Exil getrieben oder ermordet.

Anhand von Briefwechseln, Auszügen aus früheren Personalakten des Theaters, öffentlichen Reden von NS-Lokalpolitikern, Flugblättern und Zeitungsartikeln aus der NS-Presse wird von vier Schauspielerinnen und Schauspielern rekonstruiert, wie genau bei den vormals beim Theaterpublikum beliebten Bühnenkünstlerinnen und -künstlern die Demütigung, Entrechtung und der Entzug der Lebensgrundlage vonstatten ging.

Die zwei Schauspielerinnen und zwei Schauspieler schlüpfen dabei abwechselnd in die Identitäten der Täter (Politiker, Staatsbeamte, Denunzianten aus der Bevölkerung) und der Opfer. Sie zitieren etwa aus öffentlichen Verlautbarungen von NS-Kulturpolitikern und skizzieren so den raschen Umbau des Theaters zu einer Propagandastätte: Theater, so heißt es, müsse »volksnah« und »national« sein, dem »deutschen Volkswohl« dienen und der »deutschen Volksseele« in »Feierstunden« »Erholung« verschaffen. »Fremdlinge und Schädlinge«, »Dekadentes« und »Unsauberes« hingegen gelte es aus der Kultur zu entfernen, die »Ausrottung des jüdischen Ungeists« zu beschleunigen. Die Opfer, wie etwa Emma Grandeit, wissen anfangs nicht, wie ihnen geschieht: Sie habe sich »durchaus immer deutsch gefühlt« und könne nicht einsehen, warum sie ihren Beruf nicht weiter ausüben dürfe, schreibt sie in einem ihrer Briefe.

»Stolpersteine« will als politisch aufklärendes Dokumentartheater in der Tradition der 60er Jahre verstanden werden: Die traditionelle Guckkastenbühne wurde verworfen, Spuren des althergebrachten Illusionstheaters sollten getilgt werden. Alles Tun und Sprechen der Schauspieler steht im Dienst der möglichst detaillierten historischen Rekonstruktion der Lebens- und Sterbensverläufe der oben genannten verfolgten Künstler. Entsprechend schlicht ist das Bühnenbild gestaltet: Das Publikum sitzt, auf kleinen weißen Papphockern, gemeinsam mit den aus Dokumenten rezitierenden Schauspielern an einem aus mehreren Tischen zusammengefügten Riesentisch. Die benötigten Schriftstücke sind fein säuberlich in Aktenordnern abgeheftet, die sich auf einem neben dem großen Tisch stehenden Aktenwagen befinden und die gelegentlich von dem einen oder anderen Schauspieler von dort herbeigebracht werden. Auf zwei Leinwände, die als Begrenzung des Bühnenraums fungieren, werden faksimilierte Briefe, alte Zeitungsartikel und historische Fotos projiziert.

Klug wurde bei dieser Inszenierung alles vermieden, was spektakelhaft daherkommen könnte. Den Zuschauer will man nicht visuell überwältigen, ihm nicht den Blick auf das Wesentliche verstellen: die rasante Geschwindigkeit, in der zwischen 1928 und 1933 nicht nur in Karlsruhe der offene Antisemitismus und die Begeisterung der Bevölkerung für die Nazis wuchsen, die Selbstverständlichkeit, mit der Ordnungswahn und Vernichtungswahn Hand in Hand gingen und mit der die gewaltsame Übernahme der öffentlichen Kulturinstitution Theater durch nationalsozialistische Funktionäre betrieben wurde.

Die Kargheit der Ausstattung verfehlt dabei nicht ihre Wirkung. Der Zuschauer soll sich fühlen wie in einer überdimensionierten deutschen Amtsstube, soll einen Eindruck erhalten von der speziellen Sorte Bürokratie, von dem Paragraphenreiter- und Technokratentum, auf das man hierzulande bis heute so stolz ist: »Leider vermag ich Ihrem Ansuchen, am Badischen Landestheater (…) verbleiben zu dürfen, nicht näher treten, da das Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums vom 7. April 1933 auf Ihren Fall nicht zutrifft und damit auch die Ausnahmebestimmungen dieses Gesetzes nicht anwendbar sind.« Kündigungen und Entlassungen jüdischer Theaterangestellter erfolgen nicht etwa aus Judenhass, sondern aufgrund »rechtlicher Bestimmungen« bzw. »aus Gründen kultureller Umgestaltung«. Deutsches Bürokratietheater aus dem echten Leben.

Gemmecke nimmt sich 1937 das Leben, seine Witwe wird 1944 in Auschwitz ermordet. Jank stirbt 1944 in Ravensbrück. Brand und Grandeit überleben mit viel Glück.

Gegen Ende der Inszenierung wird von den Schauspielern ein im Jahr 1986 geführtes Gespräch mit einer Karlsruher Altersheimbewohnerin dokumentiert, die auch in den 30er und 40er Jahren am Badischen Staatstheater beschäftigt war. Über jene »arischen« Schauspielerinnen und Schauspieler, die seinerzeit die Plätze der geschassten Juden einnahmen, sagt sie: »Das kann man ihnen nicht übelnehmen, man muss im Leben auch manchmal Glücksfälle haben.«

Wer nach der zweistündigen Vorstellung noch Zeit hat, kann an dem großen Tisch entlangwandern und die von den Schauspielern darauf angeordneten Dokumente, Fotos und Zeitungsausschnitte studieren.

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