Ein neues Kapitel von Ankaras Doppelspiel in Syrien
Nach einer Offensive des Islamischen Staates bahnt sich im syrisch-türkischen Grenzgebiet ein weiteres Flüchtlingsdrama an
Die Milizen des Islamischen Staats (IS) waren zuletzt in ziemlicher Bedrängnis und mussten einige wichtige Positionen räumen. In Irak werden sie gerade aus der Großstadt Falludscha verdrängt. In Nordsyrien gelang es ihnen nicht, die autonomen Kurdengebiete zu überrennen, die Antikenstadt Palmyra haben sie verloren, und der Angriff auf die von ihnen gehaltene Provinzhauptstadt Rakka steht bevor.
So löste es allgemeine Überraschung aus, dass der IS im Nordosten Syriens, wo die Regierungstruppen seit April auf dem Vormarsch waren, vor einigen Tagen zum Gegenangriff übergegangen ist. Einzelheiten sind kaum bekannt, denn die Nachrichtenlage ist wie immer dünn. Die syrischen Medien berichten grundsätzlich nicht über Schlappen der Armee, und Verlautbarungen der regierungsfeindlichen Medien und Websites finden selten von einer zweiten Seite Bestätigung.
Eine Stimme aus dem Gebiet aber gibt es: Die Organisation »Ärzte ohne Grenzen« (MSF), die sich in Syrien und wohl auch in diesem Falle im Rebellengebiet aufhält, hat sich mit einem Hilferuf gemeldet. MSF-Regionalkoordinator Pablo Marco, so gab ihn am Montag AFP wieder, sprach von massiven Angriffen der IS-Milizen seit Freitag auf die von Rebellen kontrollierten Städte Marea und Asas in der Provinz Aleppo. »Wir reden von 100 000 Menschen, die einige Kilometer vom IS entfernt eingeschlossen sind«, sagte der MSF-Mann.
Es handelt sich offenbar um Zivilisten, die die Städte verlassen haben und nun festsitzen. Laut Marco sind sie zwischen der Frontlinie zum IS-Gebiet im Osten, der Türkei im Norden und dem autonomen kurdischen Bezirk Afrin im Westen eingeschlossen. Ins Kurdengebiet konnten oder wollten sie nicht, wohl aber in die Türkei. Dort aber hält man die Schlagbäume unten. Der MSF-Vertreter forderte die Türkei auf, die Flüchtlinge einreisen zu lassen. Die Türkei habe bereits viel getan, aber die Lage sei »so schlimm, dass sie die Öffnung der Grenze rechtfertigt«.
Eine - zweifellos im Sinne des Anliegens - sehr diplomatische Beschreibung der türkischen Rolle in diesem Krieg. Es ist absolut richtig, dass »die Türkei bereits sehr viel getan hat«, allerdings in erster Linie zum Ausbruch des Krieges und jetzt zu seinem Andauern. Es ist im Gegenteil keine allzu kühne Vermutung, dass die IS-Offensive ohne Nachschub über die nahe türkische Grenze kaum möglich ist.
Russische Kampfflugzeuge griffen in der Nacht zum Montag überwiegend von der Nusra-Front beherrschte Gebiete nahe der Stadt Idlib an. Nach russischen Angaben waren dort militärische Stellungen der bei der Wiener Vereinbarung zur Feuerpause im Februar ausdrücklich ausgenommenen Nusra-Front. Dagegen starben nach Angaben der Londoner oppositionellen Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte bei dem Angriff 23 Personen, vornehmlich Zivilisten, darunter sieben Kinder. So ist das mit der Wahrheit im Krieg.
Von türkischer Seite gab es in dieser Woche bereits einige Erklärungen zum Syrien-Krieg, nichts allerdings zur Lage um Asas oder gar zu dem MSF-Appell. So forderte der türkische Außenminister Mevlüt Cavusloglu am Montag die USA zu einem »gemeinsamen Spezialeinsatz mit der Türkei« in Nordsyrien auf. Ein doppelt vergiftetes Angebot. Es bedeutete Bodenkrieg auf syrischem Territorium genau dort, wo sich russische Stützpunkte in unmittelbarer Nähe befinden. Dieses Eisen dürfte den Amerikanern zu heiß sein. Noch dazu verlangt die Türkei, gleichzeitig jegliche Unterstützung der USA für die syrischen Kurden sofort einzustellen. Gleichzeitig gehen aus Ankara völlig gegensätzliche Signale nach Moskau. Während Präsident Recep Tayyip Erdogan Russland scharf angriff, weil es angeblich Waffen an die PKK geliefert habe, erklärte Regierungssprecher Numan Kurtulmus, beide Länder könnten ihre im Zuge des Syrien-Konflikts verschlechterten Beziehungen »über den Weg des Dialogs« verbessern.
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