Erdogan besteht auf türkisch-nationalistischer Geschichtsbewertung
Ankaras offizielle Politik schließt ein sachliches Herangehen an die Armenien-Problematik ausdrücklich aus - auf der Strecke blieb dabei nicht nur ein Denkmal
Je näher der Termin der Bundestagsabstimmung heranrückte, um so intensiver wurden die Appelle und Mahnungen von armenischer wie von türkischer Seite. Zuletzt waren speziell die Wortmeldungen aus Ankara schon in drohendem Ton gehalten. Bereits in der Vergangenheit war es nicht bei leeren Worten geblieben.
Die französische Nationalversammlung hatte 2011 ein Gesetz verabschiedet, welches allgemein die öffentliche Leugnung eines Völkermordes unter Strafe stellt. Ausdrücklich galt das auch für »den Massenmord an Armeniern im Osmanischen Reich während des Ersten Weltkrieges«. Daraufhin hatte der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan einen öffentlichen Wutanfall zelebriert. Frankreichs Präsident Nicolas Sarkozy, so Erdogan, möge sich gefälligst mit französischen Massakern an Algeriern in den Vierziger und Fünfziger Jahren beschäftigen. Und wenn er davon nichts wisse, möge er seinen Vater, Paul Sarkozy, fragen. Der habe schließlich in der französischen Fremdenlegion in Algerien gedient.
Schon am nächsten Tag brannten auf türkischen Plätzen Trikoloren, flogen französische Lebensmittel aus den Supermarktregalen, wurden französisch-türkische Sportbegegnungen abgesagt. Der nationalistisch eingestellte Teil der türkischen Bevölkerung bekam weiteren Zulauf. Aber die armenische Diaspora in Frankreich jubelte. Ihr berühmtester lebender Vertreter, Charles Aznavour, geboren als Schahnur Asnawurjan, ist heute als 92-Jähriger offiziell noch immer armenischer UNO-Botschafter. Der Chansonnier warnte allerdings auch die Armenier, den Diskurs weiter zuzuspitzen. Die noch junge gemeinsame Debatte über die armenisch-türkische Geschichte konnte er nicht retten.
Erdogan nahm die Gelegenheit, den Annäherungskurs zu beenden, dankbar an. Dabei zeigte Paris wenig Eifer, das inkriminierte Gesetz auch anzuwenden. Selbst Sarkozy verzichtete auf eine Retourkutsche. Sein Vater war nachgewiesenermaßen nie in Algerien gewesen.
Auch in Deutschlands türkischen Vereinen wird das Thema Armenienresolution heiß diskutiert. Die einen reden von einer unfassbaren Beleidigung der gesamten türkischen Nation, die Moderateren sagen, die Politik solle sich heraushalten und die »offenen Fragen« von Historikern klären lassen. Die Quintessenz ist aber bei politisch Links- wie bei Rechtsorientierten immer gleich: Es gab keinen Völkermord. Auch der türkischstämmige Professor Hakki Keskin, der vor zehn Jahren für die Linkspartei im Bundestag saß, lehnt die jetzige Resolution ab und möchte, dass allein Historiker entscheiden. Allerdings finden sich in seiner Argumentation höchst problematische Verharmlosungen. Oder wie soll man es bewerten, wenn Keskin, wie diese Woche in einem Offenen Brief, schreibt, es habe sich »um höchst dramatische und traurige Ereignisse« gehandelt, die den Armeniern nach dem »Umsiedlungsbeschluss« vom Mai 2015 zugestoßen seien: »Ohne Zweifel kamen dabei bei meist fehlenden Transportmöglichkeiten auf diesem langen Weg und unter den damaligen höchst ärmlichen Zuständen Hunderttausende Armenier ums Leben.« Aber Völkermord sei das nicht gewesen.
Zu einer gemeinsamen Historikerkommission wird es ohnehin in absehbarer Zeit nicht kommen. Erdogan hat sich bei der Wahl zwischen Annäherung an Armenien und einem Kurs der Konfrontation entschieden - wie auch in der Kurdenfrage -, die nationalistische Karte zu spielen.
Dies geschah wohl schon 2011. Damals ließ er das drei Jahre alte, den armenisch-türkischen Versöhnungsgedanken implizierende »Denkmal der Menschlichkeit« des türkischen Bildhauers Mehmet Aksoy in Kars, 60 Kilometer vor der armenischen Grenze, aus »ästhetischem Empfinden« einfach abreißen. Wie wenig auch der heutigen Regierung an einem differenzierten Urteil über den hunderttausendfachen Tod von Armeniern 1915/16 liegt, zeigt die Äußerung des aktuellen Ministerpräsidenten vom Mittwoch. Binali Yildirim nannte die Resolution »lächerlich«. »Das waren gewöhnliche Vorfälle, die unter den Bedingungen des Ersten Weltkriegs 1915 stattgefunden haben und in jeder Gesellschaft und in jedem Land hätten vorkommen können.«
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.