Who are you, Europe?
Zwei ehrenamtliche Helfer berichten über die Lage der Geflüchteten im griechischen Idomeni
Hassan sitzt mit uns am Feuer und erzählt von Mazedonien. Wären die Dinge anders, dann ginge es wahrscheinlich um einen günstigen Backpack-Urlaub. Wir sind alle Anfang 20, studieren und haben ähnliche Interessen. Aber Hassan erzählt nicht von einem Urlaub, sondern von seiner anstehenden Flucht durch Mazedonien. An der serbischen Grenze will er sich mit Freunden treffen, die dort auf ihn warten werden. Drei Mal hat er es schon versucht. Jedes Mal wurde er von der mazedonischen Polizei entdeckt und zurück nach Griechenland gebracht. Wir nennen das hier »Push-Back«. Nach der Genfer-Flüchtlingskonvention sind Staaten verpflichtet, Flüchtenden Schutz zu gewähren, wenn sie sich innerhalb ihrer Grenzen aufhalten. Die Push-Backs durch das mazedonische Militär und Polizei sind deshalb illegal und ein klarer Verstoß gegen die Menschenrechte. Hassan ist nur eine*r von Tausenden, die seit der Grenzschließung im März die inoffizielle Einreise über die Grenze wagen. Ausgangspunkt ist ein inoffizielles Camp an einer Tankstelle, nicht weit entfernt vom jetzt geräumten Lager in Idomeni. Von hier aus laufen die Flüchtenden mehrere Stunden zu Löchern im Grenzzaun. Viele versuchen die Flucht mit Hilfe von Schmugglern. Doch selbst so kommen nur wenige Menschen weit.
Mazedonien sei der schwierigste und gefährlichste Teil der jetzt geschlossenen Balkanroute. Die Menschen müssen große Umwege in Kauf nehmen. Der Weg führt durch unwegsames Gelände, im ständigen Versteckspiel vor der Polizei, dem Militär und der kriminellen Mafia. Sie können offizielle Straßen nicht benutzen, schlafen in den Wäldern und müssen tagelang ohne Essen und Trinken auskommen. Oft würden Menschen auch einfach verschwinden. Entweder landen sie in mazedonischen Gefängnissen oder in Lagern, von denen kaum jemand etwas weiß. Hassan erzählt: »Das schlimmste was Dir bei der Polizei passieren kann, ist verprügelt zu werden. Viel schlimmer ist aber die Mafia. Sie nehmen uns alles ab, Papiere, Geld, Wertsachen.«
Jede Familie kenne eine Geschichte über Kidnapping und Menschenhandel durch organisierte Kriminalität. Nur wenige Flüchtlinge schaffen es tatsächlich bis nach Serbien. Von hier aus sei es leichter. Die Allermeisten werden aber zurück nach Griechenland gebracht. Viele weisen dann schwere Verletzungen durch Gewalteinwirkung des Militärs oder der Polizei auf. Vor allem Flüchtende aus Afghanistan und Pakistan seien besonders oft Opfer rassistischer Gewaltwillkür. Weil die Erfolgsquote, es durch Mazedonien zu schaffen, so verschwindend gering ist, kommen jede Nacht Menschen mit schwerem Gepäck wieder im Camp an der Tankstelle in Nordgriechenland an. Sie suchen dann nach ihren alten Zelten, die sie bei ihrem Aufbruch zurückließen. Manchmal sind sie noch leer, manchmal aber schon von anderen Familien besetzt. Beeindruckend ist, wie ruhig und unaufgeregt die Menschen von tagelangen Märschen, die dann doch erfolglos endeten, zurückkehren. Und wie sie den Mut und die Hoffnung behalten, es immer wieder zu versuchen. Hassan zuckt mit den Schultern. »Natürlich versuche ich es wieder. Ich darf nicht aufgeben, denn es gibt keine andere Möglichkeit.«
Die Abschottungspolitik der EU zwingt die Menschen diese illegalen und gefährlichen Wege zu gehen. Eine Perspektive in Griechenland? Gibt es nicht. Seit der Räumung von Idomeni und anderen inoffiziellen Camps werden die Menschen suksessiv in Militärcamps überführt. Diese sind oft im Hinterland, weit weg von größeren Städten. Obwohl die Menschen sich offziell frei bewegen dürfen, sind sie gewissermaßen im Camp gefangen. An sich scheinen die meisten Militärcamps von außen alles Nötige bereit zu stellen: große Zelte, Essen, medizinische Betreuung und sanitäre Anlagen. Aber hinter den geschönten Kulissen offenbart sich das wahre Bild. Die Essensrationen reichen nicht aus, als sanitäre Anlagen dienen lediglich ein paar wenige Dixi-Klos und es gibt oft nur ein*e Ärzt*in für ein ganzes Camp. Neben lagerbedingten Krankheiten haben viele der Flüchtenden durch den Krieg oder die Flucht schwere Verletzungen davongetragen. Sie werden medizinisch unzureichend behandelt. Das Schmerzmittel Paracetamol scheint das Allheilmittel für jegliche Verletzung zu sein.
So wurde die Beindurchschusswunde eines Mannes lediglich mit einer Salbe behandelt. Ein Krankenhausbesuch zu erwirken, ist für die Flüchtenden in den Militärcamps ohne externe Hilfe nicht realisierbar. »Es ist hier nicht möglich ein Leben aufzubauen. Manche unserer Kinder sind seit sechs Jahren nicht mehr in eine Schule gegangen. Einige von uns wünschen sich im Krieg umgekommen zu sein, denn in Syrien wären wir wenigstens mit Würde gestorben. Wir haben das Leben unserer Kinder riskiert, um Frieden zu finden, und keinen gefunden«, sagt Nasr, ein Vater, der mit seiner Familie in einem dieser Camps lebt. Das Leben zwischen den Zelten ohne Arbeit, Beschäftigung und Schule ist pespektivlos.
Für die Flüchtenden ist das Militärcamp eine Endstation. Von hier aus gibt es kein Vor und kein Zurück. Durch die Dezentralisierung werden sie unsichtbar, entmündigt und durch die herrschende EU-Politik auf's Abstellgleis gestellt. Militärcamps sind die Hauptplattform struktureller Diskriminierung von Schutzsuchenden in Griechenland.
Aber nicht alle beugen sich diesen diskriminierenden Strukturen. Es gibt Flüchtende, die ihre Rechte einfordern. Die Grenzübertritte sind eine indirekte Form des Protests gegen die Festung Europa, die diesen Menschen willentlich Schutz verwehrt. Aber es formieren sich auch direkte Protestformen. Nach der Räumung des Idomeni-Camps demonstrierten hunderte Flüchtende und Freiwillige gemeinsam gegen die staatlich organisierte Deportation der Menschen aus Idomeni. Die Demonstrierenden blockierten eine Schnellstraße, die zum Grenzübergang nach Mazedonien führt. Auch Hassan stand auf der Straße und hielt ein Banner mit der Aufschrift: »Who Are You, Europe?«.
Das ist nicht nur eine rhetorische Frage. Denn im Moment präsentiert sich Europa als abgeschottete Hochburg des Reichtums und Wohlstands. Tausende Menschen sind dem Elend und den Gefahren an den Außengrenzen schutzlos ausgeliefert. Aber so kann und darf es nicht bleiben. Weder die Flüchtenden, noch wir als europäische Bürger*innen sind Objekte der EU-Politik. Für den Wandel braucht es sowohl den Widerstand an den Grenzen, als auch Engagement von innen. So lange, bis wir die Frage nach den Werten und der Identität Europas richtig beantworten können.
Clara Graulich und Martin Wähler waren als freiwillige, ehrenamtliche Helfer in Idomeni vor Ort. In dem Beitrag schildern sie ihre Erlebnisse und Erfahrungen.
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