Die Mauer von Belfast

Martin Leidenfrost stieß in Nordirlands Hauptstadt auf eine martialische Trennlinie zwischen Katholiken und Protestanten

  • Martin Leidenfrost
  • Lesedauer: 3 Min.

Erstkommunionmädchen in weißen Kleidern stehen zappelnd auf der Anhöhe, der Rasen der Kathedrale fällt terrassenförmig zum Städtchen Armagh ab. Eine zwingende Idee, das saftige Grün schreit nach dem Prinzessinnen-Weiß der Kleider. Einige Mädchen rollen quietschend runter.

Der nordirische Bürgerkrieg von 1969 bis 1998 forderte 3500 Tote. Er tobte zwischen den Nachfahren englischer und schottischer Kolonisten auf der einen Seite und irischen Ureinwohnern auf der anderen Seite. Er tobte zwischen besitzenden Patriziern mit staatlichem Gewaltmonopol und einer bäuerlich-proletarischen Unterschicht. Er war aber irgendwo auch ein Religionskrieg zwischen Protestanten und Katholiken. Die Kathedrale von Armagh war immerhin halbwegs voll, aber da lockten auch die Attraktionen Chorgesang, Erstkommunion und der sehr katholische Brauch der Fronleichnamsprozession an den Sitz des katholischen Primas von ganz Irland. Viele kamen von fern, viele polnische Gastarbeiter auch. Ansonsten sah ich im frömmsten Teilstaat des Vereinigten Königreichs einen schier unglaublichen Niedergang des Glaubens.

In der zunehmend katholisch dominierten Stadt Derry etwa hatte man aus einem protestantischen Gotteshaus einen Fitnessklub gemacht. Das Kirchenportal verkündete in goldenen Lettern: MILLION DOLLAR FITNESS. In der protestantischen Küstenstadt Bangor manifestierte sich der dutzendfach aufgespaltene Pietismus noch als öffentlich aufgemalte Ermunterung. Auf der Yacht-Promenade las ich: »Christus starb für die Gottlosen.« Große Villen am Hang hatten Meerblick. Sie waren schnörkellos, durch die häufig offenstehenden Einfahrten blickte ich in die ausgeräumte Welt calvinistischer Großbürger mit unauffälligen Kleinwagen hinein. An seinen Gartenzaun zum Felsstrand hatte jemand eine Holztafel genagelt: »Gewaltiger als das Tosen vieler Wasser, / gewaltiger als die Brandung des Meeres / ist der Herr in der Höhe.«

Ich fuhr nach Belfast-West. Hier gingen die »Troubles« 1969 los, als ein protestantischer Mob aus der »Shankill« eine Straße nebenan in der katholischen »Falls« abfackelte. Dass »Unionisten« und »Nationalisten« auch 18 Jahre nach Friedensschluss und Wirtschaftsaufschwung segregiert leben, war mir bekannt; die Frontviertel erkennt man stets leicht an den aufgezogenen Fahnen. Als ich in der Falls dann aber plötzlich anstand, war ich doch geplättet. Diese »Peace Wall« war riesig: ein paar Meter Betonwand, darauf ein paar Meter grünes Metall, darauf ein paar weitere Meter Zaun. Die Wand zog sich sicher einen halben Kilometer hin, im Stadtplan der Tourismuswerbung fehlte die Barriere. Neue bessere Reihenhäuser, an der Mauer wohnt es sich verkehrsberuhigt. Zwei Jungen im Erstkommunionsalter spielten auf der Straße Fußball, ein Dribbling. Nur mit ihrer Hilfe fand ich den Umweg in die Shankill rüber.

Sowohl die Falls als auch die Shankill waren ein bewohnter Gedächtnispark. An jeder freien Hauswand heroische Wandmalereien, Totentafeln an katholischen Wohnhäusern für »Republikaner«, bei denen die Attribute »sozialistisch«, »irisch« und »europäisch« zusammengingen, Denkmäler für die fünf in die Luft geblasenen Lokale bei den Protestanten. Ich ging am Sonntag in vier Gottesdienste. Die katholischen Kirchen waren zu 80 Prozent leer, Seniorenanteil 80 Prozent, der Gesang in der »Saint John« wurde gar vom Band eingespielt. Die anglikanische Lukaskirche in der Shankill stand zum Verkauf: »Kein Denkmalschutz, vielseitig nutzbar, McCleary 90207111«. Im turmlosen Lagerhaus gegenüber, der »John Knox Memorial Free Presbyterian Church«, ließ mich der freundliche Pastor zuhören. Er predigte zwei Mal mit geschlossenen Augen, die wenigen Gläubigen schlossen ebenfalls die Augen.

Ich beschloss, Gottesmänner auf beiden Seiten aufzusuchen. Mit wem ließe sich die nordirische Stimmung vor dem Brexit-Referendum besser ausloten als mit den Pfarrern im Schatten der Mauer? Als ich auf der protestantischen Seite der Peace Wall zurückwanderte, hörte ich von drüben Kinderstimmen. Die nordirische Nationalmannschaft hat sich zum ersten Mal zu einer Europameisterschaft qualifiziert, und die beiden Jungen dribbelten immer noch. Die Belfaster Mauer des Friedens ist keine Lärmschutzwand. Sie verhindert bloß, dass man dem Feind ins Gesicht sehen muss.

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