Krawalle überschatten das erste Turnierwochenende
Unser Newsblog zum Turnier +++ Tag 3 der Fußball-EM 2016 in Frankreich +++ Die Spiele heute: Türkei - Kroatien 0:1, Polen - Nordirland 1:0, Deutschland - Ukraine / UEFA droht England und Russland mit Ausschluss
Update 19.50 Uhr: Französische Regierung verbietet Alkohol im Umfeld von EM-Veranstaltungen
Nach brutalen Ausschreitungen betrunkener Fans bei der Fußball-Europameisterschaft hat die französische Regierung Alkohol im Umfeld von EM-Veranstaltungen verboten. Innenminister Bernard Cazeneuve teilte am Sonntag mit, er habe angeordnet, Maßnahmen zu ergreifen, um an Spieltagen, den Tagen davor und bei Öffnung von Fanmeilen in den »sensiblen Bereichen« den Kauf, den Konsum und den Transport alkoholischer Getränke zu verhindern.
»Die Vorfälle von Marseille von gestern Abend sind inakzeptabel«, sagte Cazeneuve. 35 Menschen wurden bei der Gewalteskalation vor dem Spiel England gegen Russland in Marseille verletzt, sieben von ihnen schwer. Zehn Beteiligte waren am Sonntag in Polizeigewahrsam, darunter ein Deutscher.
Ausländische Fans, deren Verhalten die öffentliche Ordnung gefährde, könnten ausgewiesen werden, sagte Cazeneuve. Jedem einmal in Gewahrsam genommenen Fußballfan könne der Zutritt zu Stadien, Fanmeilen und bestimmten Stadtvierteln untersagt werden.
Update 19.10 Uhr: Deutsche Hooligans wüten in Lille
Im Vorfeld des deutschen Auftaktspiels bei der Fußball-Europameisterschaft gegen die Ukraine ist es am Sonntag zu Ausschreitungen im Stadtzentrum von Lille gekommen. Mehr als 50 deutsche Hooligans griffen dabei gegen 17.30 Uhr in der Nähe des Bahnhofs ukrainische Fans an. Das bestätigte Volker Goll, stellvertretender Leiter der Koordinationsstelle Fanprojekte (KOS), dem SID.
»Die französische Polizei hat sehr spät eingegriffen«, sagte Goll. Die KOS begleitet die deutschen Fans in Frankreich. Die deutsche Polizeidelegation, die mit acht szenekundigen Beamten vor Ort ist, gab an, dass die Situation nicht ansatzweise mit den jüngsten Ausschreitungen in Marseille vergleichbar sei. Dort hatten in den vergangenen Tagen immer wieder russische und englische Hooligans für Jagdszenen gesorgt, ein Engländer schwebt nach den Vorfällen in Lebensgefahr.
In Lille flogen am Sonntag nach Augenzeugenberichten vor den Straßencafés Flaschen, Stühle und Rauchbomben. Auch rechtsradikale Parolen sollen skandiert worden sein, zudem wurde eine Reichskriegsflagge gezeigt. Nach SID-Informationen befinden sich rund 150 polizeibekannte Gewalttäter aus Deutschland in Lille. Auch ein Reporter des TV-Senders Sport1 wurde von zwei Krawallmachern attackiert und bekam einen Schlag in die Rippen.
Update 16.30 Uhr: UEFA verwarnt Russland und England - EM-Ausschluss möglich
Das Exekutivkomitee der UEFA hat die Fußballverbände Russlands und Englands nach den Ausschreitungen von Marseille offiziell verwarnt. Im Wiederholungsfall sei auch ein Turnierausschluss möglich, teilte die Europäische Fußball-Union am Sonntag mit.
Der Chef der englischen Fanvereinigung hat sich nach den Ausschreitungen in Marseille für einen Ausschluss Russlands von der Fußball-EM ausgesprochen. »Bei der Euro 2000 wurde England mit dem Turnierausschluss wegen des Verhaltens seiner Anhänger außerhalb des Stadions bedroht«, sagte Kevin Miles dem »Telegraph« am Sonntag. Diese Ausschreitungen im belgischen Charleroi seien »weniger schwerwiegend« gewesen als die Geschehnisse in Marseille. Deshalb müsse »basierend auf dem, was wir jetzt im Stadion gesehen haben, sicher auch die Frage über die weitere Teilnahme von Russland gestellt werden.«
Die Hauptverantwortung für die Krawalle an drei Tagen würden die Organisatoren der Angriffe tragen. »Es gibt keine Frage, dass Gruppen von Einheimischen Attacken auf englische Fans geplant und ausgeführt haben, nur weil es englische Fußball-Fans waren«, sagte Miles. »Dies wurde einfach wiederholt von russischen Hardcore-Hooligans, die sich vor den Attacken formiert haben. Es sah aus, als hätten sie monatelang dafür trainiert.«
Die Polizei habe die Sicherheit der Menschen nicht sicherstellen können und ohne Unterscheidung von Angreifern und Opfern mit Tränengas agiert, beklagte der Vertreter der englischen Anhänger. Am Samstagabend war es kurz vor Ende der Partie zwischen England und Russland auch im Stade Vélodrome zu Auseinandersetzungen gekommen. Augenscheinlich gingen russische Anhänger auf englische Fans los, die in benachbarten Blöcken saßen, und prügelten wild auf diese ein.
Update 15.10 Uhr: Auch Deutscher nach Randale in Marseille festgenommen
Bei den Ausschreitungen zwischen englischen und russischen Fangruppen in Marseille ist auch ein Deutscher festgenommen worden. Unter den zehn Personen, die die Polizei festgesetzt hat, sind demnach neben Engländern und Russen auch Franzosen sowie ein Österreicher und der Deutsche. Dies sagte der Sprecher des Innenministeriums, Pierre-Henry Brandet, am Sonntag der französischen Agentur AFP. Einige der Festgenommenen sollen im Rahmen von Schnellverfahren bereits am Montag vor Gericht kommen, berichtete der Sender France Info unter Berufung auf die Staatsanwaltschaft.
Der Spiegel-Autor Rafael Buschmann twitterte ein Foto aus Lille – Deutsche Hools mit Reichkriegsflagge und einem Schal mit der Aufschrift »Dresden-Ost« – einer »Fan«-Gruppierung von Dynamo Dresden.
Bei verstärkten Kontrollen vor dem ersten EM-Spiel der deutschen Nationalelf hat die Bundespolizei in der Nähe von Trier am Sonntagmorgen 18 Hooligans gestoppt und an der Ausreise gehindert. Wie ein Sprecher sagte, handelte es sich um einschlägig bekannte Gewalttäter aus Dresden. Sie seien in drei Kleinbussen unterwegs gewesen, bei ihnen seien Sturmhauben und Mundschutze gefunden worden. Man gehe davon aus, dass sie beim Spiel der deutschen Nationalelf am Sonntagabend gegen die Ukraine in Lille gewalttätige Auseinandersetzungen geplant hätten.
Die Kollegen von »11 Freunde« haben Pavel Klymenko vom Fan-Netzwerk FARE interviewt – er war mittendrin, als die Krawalle von Marseille passierten. Er befürchtet, dass die Gewalt jetzt erst richtig los geht.
Ausschreitungen überschatten das erste EM-Wochenende
Ausschreitungen auf der Straße und im Stadion, ein Fan in Lebensgefahr und Dutzende weitere Verletzte: Nach den schweren Ausschreitungen vor und nach dem EM-Gruppenspiel zwischen England und Russland berät die Europäische Fußball-Union über Konsequenzen. Vor weiteren Schritten wolle man Informationen des Disziplinarkomitees abwarten, hieß es am späten Samstagabend auf dpa-Anfrage. Auch in Nizza gab es Auseinandersetzungen zwischen örtlichen Jugendlichen und nordirischen Fans mit mehreren Verletzten.
Die Bilder von den Ausschreitungen beim EM-Spiel zwischen England und Russland sind von der Europäischen Fußball-Union bewusst nicht im internationalen TV-Bild gezeigt worden. »Wir wollen nicht, dass Szenen von Gewalt im Fernsehen zu sehen sind«, teilte die UEFA am Sonntag mit.
Der Dachverband fürchtet einen Nachahmungseffekt. Deshalb werden auch keine Bilder von sogenannten Flitzern, die bei Spielen auf den Platz laufen, im internationalen TV-Signal gezeigt. Das ZDF hätte die Ausschreitungen im Stadion von Marseille aber mit eigenen Kameras zeigen dürfen, hieß es.
Im Zuge der Flüchtlingsdebatte vernetzen sich Hooligans europaweit und trauen sich wieder in die Öffentlichkeit. Vor der EM war die Terrorgefahr zentral - Hooligans waren lange kein Thema mehr. Doch eine neue Gewaltwelle in ganz Europa war in den vergangenen Jahren absehbar. So schlagkräftig wirkte die Szene lange nicht mehr.
»Für die klassischen Fans war es ein Schock.« – Vor 18 Jahren sorgten deutsche Hooligans für die »Schande von Lens« - sie schlugen einen französischen Polizisten fast tot. Sozialarbeiter Thomas Hafke (54) war dabei, als Hooligans 1998 Daniel Nivel fast totschlugen. Der Ex-Polizist ist am Sonntag im Stadion. Christoph Ruf sprach mit ihm.
Ausschreitungen bestimmen also die Schlagzeilen – Aktionen des organisierten Protests gegen die von Staatspräsident Francois Hollande geplanten Änderungen des Arbeitsrechts, die vor allem durch Verlängerung der Arbeitszeiten und Lockerung des Kündigungsschutzes die Situation der wirtschaftlich Abhängigen weiter verschlechtern, muss man dagegen suchen – Alexander Ludewig hat es getan und wurde auf dem Place de la République fündig.
EM bei diesem Wetter – das ist immer auch Gucken im Garten und Grillen. Hier haben Kollegen haben Videos mit veganen Anregungen für die kulinarische Begleitung des Turniers produziert. Für alle, ob sie nun Hardcore-Veganer sind oder sogar das Wurstwasser trinken.
Wer spielt heute gegen wen?
Kroatien ist die Revanche für das EM-Drama von Wien 2008 geglückt. Mit dem Sieg gegen die Türken im EM-Auftaktspiel in Paris ist das Team um Topstar Luka Modric schon auf dem besten Weg ins Achtelfinale: Ein spektakuläres Volleytor von Champions-League-Sieger Luka Modric hat den hoch gehandelten Kroaten zum Auftaktsieg bei der Fußball-EM verholfen. Der Mittelfeldstar von Real Madrid erzielte am Sonntag in Paris in der 41. Minute den einzigen Treffer beim verdienten 1:0 (1:0)-Erfolg gegen die enttäuschenden Türken. Damit verschaffte sich Kroatien vor 43 842 Zuschauern in der schweren Gruppe D mit Titelverteidiger Spanien und Tschechien eine gute Ausgangsposition auf dem Weg ins Achtelfinale.
Der Einzug ins Achtelfinale ist zum Greifen nahe, doch es war ein hartes Stück Arbeit: 50 Minuten lang bissen sich Bundesliga-Torschützenkönig Lewandowski und seine Kollegen am EM-Neuling die Zähne aus. Aber durch 1:0-Sieg gegen Nordirland ist bereits großer Schritt Richtuung Achtelfinale in deutscher Gruppe C.
Die Ukraine gab sich vor dem EM-Auftakt um 21 Uhr in Lille gegen Weltmeister Deutschland zuversichtlich. In Zeiten des Krieges hat die EM-Teilnahme der Ukraine eine besondere Bedeutung. Nur die Stimmung im Team stimmt nicht: Die Spieler der beiden Spitzenklubs des Landes, Dynamo Kiew und Schachtjor Donezk, haben nicht gerade die besten Beziehungen zueinander. Das letzte Spiel Anfang Mai eskalierte zum echten Boxkampf.
Thomas Müller ist ein Optimist. Ein unverbesserlicher? »Im Vergleich zur WM vor zwei Jahren haben wir jetzt einen noch breiteren, tieferen Kader bei annähernd gleichbleibender Qualität. So gesehen sind wir meiner Meinung nach schon stärker geworden«, sagt der 26-jährige vom FC Bayern München – nach der verletzungsbedingten Abreise von Innenverteidiger Antonio Rüdiger. Der DFB-Tross schien »Sorgenlos in Evian«, wie Alexander Ludewig beobachtete.
EM-Splitter
- Vor dem ersten Spiel der deutschen Nationalelf will die Bundespolizei verstärkt den Grenzraum zu Belgien und Luxemburg kontrollieren. Ziel sei es unter anderem, »gewaltbereite Fußballfans aufzuspüren« und von der Weiterreise nach Frankreich abzuhalten. Feste Grenzkontrollen soll es aber während der Europameisterschaft nicht geben. Die Bundespolizei setzt vielmehr auf Stichproben, dabei sollen einzelne Fahrzeuge aus dem fließenden Verkehr geholt und überprüft werden. Auch Fan- und szenekundige Beamten sind im Einsatz.
- Schmerzhaftes Malheur in Bordeaux: Gareth Bale hat einem walisischen Fan unmittelbar vor der EM-Auftaktpartie gegen die Slowakei am Sonnabend offenbar die Nase gebrochen. Dies berichtete die spanische Tageszeitung AS. Demnach landete ein Schuss des Stürmers von Real Madrid beim Aufwärmen direkt im Gesicht eines Zuschauers, der sofort zu bluten begann. Bale sah die Verletzung und entschuldigte sich umgehend. Bale bewies seine Treffsicherheit kurze Zeit später auch im Spiel. Der 26-Jährige traf per Freistoß zur 1:0-Führung für Wales aus rund 25 Metern.
Wer oder was fehlt?
Rumänien startete vorgestern ins Turnier, heute spielt die Ukraine. Und dazwischen? Liegen fünf EM-Partien – und ein Staat. Moldawien oder Moldau ist auf der Fußballlandkarte Europas bisher kaum in Erscheinung getreten. In der Qualifikation zur Euro 2016 gelang sogar das »Kunststück«, als Gruppenletzter noch hinter Liechtenstein einzulaufen, Heimniederlage gegen das winzige Fürstentum ohne eigene Fußballliga inklusive. Eine eigene Fußballliga gibt es im zweihundertmal größeren Moldawien natürlich. Und die hat Einmaliges zu bieten: 2001, 2002, 2003, 2004, 2005, 2006, 2007, 2008, 2009, 2010, 2012, 2013, 2014 und 2016 gewann Sheriff Tiraspol die Meisterschaft des Landes – und dabei trägt der Verein seine Heimspiele in einem De-Facto-Staat aus, der völkerrechtlich von keinen anderem Staat anerkannt wird. Tiraspol ist die Hauptstadt der Pridnestrowischen Moldauischen Republik, besser bekannt als Transnistrien. Während des Zerfalls der Sowjetunion spaltete sich das Zentrum der Schwerindustrie östlich des Flusses Dnestr vom Rest Moldawiens ab. Nach einem kurzen Krieg von März bis August 1992 erreichte Transnistrien eine De-facto-Unabhängigkeit, während Moldawien seine Souveränität über das Gebiet einbüßte – bis heute. Der Konflikt ist »eingefroren« – was die Fußballer aus Transnistrien aber nicht daran hindert, mit den moldauischen Teams in einer Liga zu spielen. Konkurrenzlos erfolgreich wie im Falle von Sheriff Tiraspol – die finanziellen Mittel sind es ebenfalls. Das Unternehmen Sheriff ist oder war in jedem denkbaren Wirtschaftsfeld tätig: Verlage, Likörfabriken, Supermärkte, Mobilfunk … der Name des Unternehmens stammt übrigens nach eigenen Angaben in Anlehnung an die frühere Tätigkeit der Unternehmensgründer als Polizisten. stf/mit Agenturen
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