Verordnetes Vergessen

Die Bundesregierung will nicht an den Überfall auf die Sowjetunion im Juni 1941 erinnern, meint Sevim Dagdelen. Das hat unmittelbar mit dem aktuellen NATO-Aufmarsch an Russlands Westgrenze zu tun.

  • Sevim Dagdelen
  • Lesedauer: 3 Min.

Anfang Juli sollte auf Einladung der Bundesregierung und des Bundestages eine hochrangige Delegation aus Russland unter Leitung von Präsidentenberater Michail Fedotow nach Deutschland kommen. Mit den Gästen aus Moskau sollten »Lehren der Vergangenheit und Aussöhnung« diskutiert werden. Die Begegnung hätte kurz nach dem 75. Jahrestag des Überfalls deutscher Truppen auf die Sowjetunion stattgefunden. Wer nun dachte, der verbrecherische Angriff Nazideutschlands wäre ein geeignetes Thema gewesen, um »den Gästen einen Einblick in die deutschen Bemühungen und Erfahrungen im Umgang mit Erinnerung und Gedenken« zu geben, der sah sich getäuscht. In einem Schreiben an die Mitglieder der Deutsch-Russischen Parlamentariergruppe des Bundestages hieß es vielmehr zum Hintergrund der Reise, es ginge darum, sich »insbesondere im Vorfeld des Gedenkjahres 2017 (Oktoberrevolution, stalinistischer Terror)« dem Andenken der Opfer der politischen Repression zu widmen. Kein Wort zum deutschen Terror 1941.

Immerhin hätten die Gäste aus Russland damit einen - wenn auch fragwürdigen - »Einblick in die deutschen Bemühungen und Erfahrungen im Umgang mit Erinnerung und Gedenken« erhalten. Denn die Bundesregierung will sich an bestimmte Daten und Verbrechen einfach nicht erinnern und möchte auch nicht an diese erinnern. So spielt der historische Jahrestag des Überfalls auf die Sowjetunion wie bereits der 70. Jahrestag der Befreiung vom Nazismus und der 75. Jahrestag des Überfalls auf Polen keinerlei Rolle in der Erinnerungspolitik der Bundesregierung. Das geht aus ihrer Antwort auf eine Kleine Anfrage von mir hervor. Formal heißt es da, es entspreche nicht dem »Verständnis der Gedenkstättenkonzeption des Bundes«, die Aufarbeitung von Geschichte sowie entsprechende Gedenkveranstaltungen durchzuführen. Konzeption und Durchführung werde den fachkundigen »Einrichtungen der politischen, historischen und kulturellen Bildung« überlassen, »um wissenschaftlich fundiertes und gesellschaftlich verankertes Erinnerungswesen zu fördern«. Entsprechend werde es auch keine Gedenkveranstaltungen in Eigenregie geben - weder im In- noch im Ausland. Doch diese Argumentation trägt nicht, da man bei anderen historischen Ereignissen ganz anders verfahren ist und verfährt.

So geschehen im vorvergangenen Jahr beim 100. Jahrestag des Beginns des Ersten Weltkrieges. Damals hatten das Auswärtige Amt und das Bundesjustizministerium zahlreiche Veranstaltungen in Eigenregie organisiert. Dieses Engagement hatte aber wohl weniger mit dem runden Jahrestag zu tun. Es war vielmehr eine günstige Gelegenheit, sich mit der vielerorts vertretenen These eines in den Weltkrieg schlafwandelnden Europas von der Kriegsschuld und Verantwortung der deutschen Eliten zu befreien.

Der Überfall des faschistischen Deutschlands war die größte geschichtliche Katastrophe im vergangenen Jahrhundert. Mehr als 26 Millionen Menschen in der Sowjetunion waren im Zweiten Weltkrieg getötet worden - zwei Drittel von ihnen waren Zivilisten. Von den etwa 5,7 Millionen Rotarmisten überlebten 3,3 Millionen die deutsche Gefangenschaft nicht. 1710 Städte, 70 000 Dörfer, 32 000 Fabriken, 2766 Kirchen und Klöster, 4000 Bibliotheken und 427 Museen wurden von den deutschen Besatzern zerstört. Mit dem Überfall auf die Sowjetunion begann aber auch die entscheidende Phase im Plan der Nazis für die Vernichtung der jüdischen Bevölkerung.

Welche Lehren aber zieht die Bundesregierung aus der Geschichte, wenn sie die Erinnerung an den Angriff auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 nicht lebendig halten will? Eine Auslegung, dass mit dem verordneten Vergessen auch der aktuelle Aufmarsch deutscher Soldaten im Rahmen der NATO an der russischen Westgrenze sowie Deutschlands Führungsrolle bei NATO-Verbänden wie in Litauen nicht gestört werden soll, liegt nahe. Eines ist ganz sicher: Mit den immer wieder beschworenen »Lehren aus der Vergangenheit« ist es offensichtlich nicht weit her. Geschichtsvergessenheit gehört zum Instrumentenkasten einer aggressiven deutschen Außenpolitik von Angela Merkel und Frank-Walter Steinmeier (SPD) gegen Russland.

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