Mammutaufgabe für Hamid Karzai

Neuer Regierungschef Afghanistans will Terrorismus und Waffenkult ein Ende bereiten

  • Hilmar König, Delhi
  • Lesedauer: 5 Min.
Afghanistans Übergangsregierung tritt heute ihr Amt an. Damit geht die bisherige Alleinherrschaft der Nordallianz in Kabul zu Ende.
Interimspremier Hamid Karzai und sein Team aus 28 Männern und zwei Frauen stehen im nächsten halben Jahr vor einer gewaltigen Herausforderung: den Weg zu ebnen für dauerhaften Frieden, für Harmonie unter den ethnischen Gruppen, für die Rückkehr von Millionen Flüchtlingen, für den Wiederaufbau des schwer zerstörten Landes und schließlich für die Einführung demokratischer Strukturen. In Kabul hat inzwischen die Hochzeitssaison begonnen - Feiern, Musik, Tanz und Gesang bilden einen symbolhaften Rahmen für die Vereidigung der ersten Regierung nach dem Sturz des Taleban-Regimes. Das alles hatten die Sittenwächter als »unislamisch« unter Strafe gestellt. Nun sind alle Restriktionen aufgehoben und im Restaurant »Shifaa Joo« in Kabul konnten Ahmad Zia und seine Braut Firuzan ihre Vermählung so feiern, wie sie es wünschten. »Es war wundervoll. Alle waren glücklich. Männer und Frauen tanzten. Die Frauen dürfen sich wieder in der Öffentlichkeit sehen lassen. Das ist der größte Sieg«, urteilte einer der Gäste. Doch - es müssen noch ganz andere Siege errungen werden, ehe Afghanistan seiner Bevölkerung wieder ein menschenwürdiges Zuhause sein kann. Hamid Karzai, der 44 Jahre alte Regierungschef, gilt als ausgesprochener Optimist, was nicht heißt, dass er sich der Mammutarbeit nicht bewusst wäre, die er zu bewältigen hat. Er muss seine Landsleute durch wohl bedachte Schritte überzeugen und jene im Auge behalten, die ihm eventuell Knüppel zwischen die Beine werfen wollen. Immerhin befinden sich darunter profilierte Leute, die in der Regierung keinen Platz gefunden haben und darüber verärgert sind: Ex-Präsident Burhanuddin Rabbani, General Rashid Dostum, der seine Hausmacht in Mazar-e Scharif hat, Ismail Khan, der Gouverneur von Herat, Abdul Rasul Sayaf, Chef der Wahibi-Partei und Kommandeur eigener Truppen, der Sufi-Führer Pir Sayed Ahmad Gailani und viele Kriegsfürsten der östlichen Provinzen. Deshalb ist durchaus denkbar, dass Karzai noch Nachbesserungen in seiner Regierungsmannschaft vornimmt. Nicht zu vergessen: Taleban und Al Qaida sind zwar als Machtorgane des früheren Regimes von der Bildfläche verschwunden, doch sie haben sich nicht in Luft aufgelöst, und es bleibt abzuwarten, wozu sie noch fähig sein werden. Die Übergangsregierung, auf die sich die vier bei der Konferenz in Bonn vertretenen Gruppen geeinigt hatten, berücksichtigt in ihrer Zusammensetzung die ethnische Struktur Afghanistans. Sie besteht aus elf Paschtunen, acht Tadshiken, fünf Hazaras, drei Usbeken und drei Angehörigen kleinerer Stämme und Glaubensrichtungen. Die Nordallianz/Vereinte Front nimmt 17 Plätze ein. Drei ihrer Vertreter waren enge Kampfgefährten des ermordeten Oberkommandeurs Ahmed Shah Massud, der schon jetzt als Nationalheld verehrt wird. Der Paschtune Karzai selbst gehört keiner Partei an, war kein Mujaheddin-Kommandeur, besitzt aber eine Hausmacht in seinem südafghanischen Popalzai-Stamm und hat mit ihm zusammen seit Oktober, noch bevor die Antiterrorkoalition zuschlug, gegen die Taleban gekämpft. Das hat ihm den Respekt aller oppositionellen Fraktionen eingebracht. Er erhielt seine Ausbildung in Indien, lebte im pakistanischen Exil, wo er gute Kontakte zum Geheimdienst ISI gepflegt haben soll, gilt als Anhänger von Ex-König Zahir Schah und hat starke Verbindungen zu den USA, angeblich auch zur CIA. Dort leben etliche seiner Geschwister. Vorwürfe, er sei eine Marionette des Westens, wies Karzai energisch zurück: »Die Tatsache, dass ich aus dem Inneren Afghanistans kam, dass ich von Anfang an, seit fünf oder sechs Jahren, am entschiedensten kritisiert habe, was in Afghanistan geschah, schließen solche Annahmen aus.« Dass sein Land auf Wirtschafts- und Finanzhilfe der USA und Europas für den Wiederaufbau angewiesen sein werde, bedeute nicht, dass er als Regierungschef keine Kontrolle über die Angelegenheiten Afghanistans haben werde. Bei seinem kürzlichen Aufenthalt in Rom, wo er sich gleichsam den Segen Zahir Schahs holte, erklärte Hamid Karzai gegenüber der Nachrichtenagentur Reuters zu den Schwerpunkten seines Programms, er wolle dem Terrorismus, dem Waffenkult und dem Unwesen der Kriegsfürsten ein Ende bereiten: »Ich bin sehr, sehr entschlossen. Die Terroristen haben unserem Volk eine unsägliche Zeit voller Leiden gebracht. Sie haben getötet, unsere Obstplantagen und unsere Weingärten verwüstet. Sie haben versucht, Afghanistan zu zerstören, die Essenz der Afghanen auszulöschen. Ich bin entschlossen, sie zu vernichten, nicht nur in Afghanistan, sondern überall in der Welt.« Der neue Premier ließ auch keine Zweifel daran, dass seine Regierung für eine bestimmte Zeit den Schutz ausländischer Friedenstruppen braucht. Darüber bestand freilich keine einhellige Meinung unter seinen künftigen Ministern. Vor allem Verteidigungsminister Mohammed Fahim kann sich mit diesem Gedanken bis heute nicht anfreunden. Er definierte die Rolle von Friedenstruppen, die er zunächst ohnehin auf 1000 Mann begrenzt haben wollte, als weitgehend symbolisch. Seiner Meinung nach könnten 2000 bis 3000 Mann von ihnen mit humanitären Hilfsaufgaben betraut und als Reservetruppe auf dem Stützpunkt Bagram außerhalb Kabuls untergebracht werden. »Die Sicherheit liegt in der Verantwortung von Afghanen«, sagte er. Die UNO-Truppen hätten keine Macht, irgendjemanden zu entwaffnen, seine Truppen würden in der Hauptstadt bleiben. Entweder wird General Fahim zu mehr Flexibilität gedrängt, oder es wird bald Schwierigkeiten innerhalb der Regierung und mit den ausländischen Soldaten geben. Karzai hat sich bemüht, hier im Vorfeld schon Sprengstoff zu entschärfen, indem er die Notwendigkeit des Aufbaus einer afghanischen Nationalarmee betonte, in die alle militärischen Sektionen integriert sind. Aber das wird dauern. Was der Premier nicht auf die lange Bank schieben kann, sind Maßnahmen zur Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln, Bekleidung und Brennstoff. Er muss schnell die Grundbedingungen verbessern, die allgemeine Sicherheit auch außerhalb Kabuls erhöhen, damit die internationalen Hilfsorganisationen ihre Lieferungen vor Ort bringen können. Zugleich muss Karzai den Aufbau der zerstörten gesellschaftlichen und staatlichen Institutionen anpacken, z.B. eine Zentralbank bilden, das Post- und Telekommunikationswesen wiederbeleben, auf Bildung und Gesundheit orientieren, ein juristisches System, eine Menschenrechtskommission ins Leben rufen, die Infrastruktur reparieren und landesweit das Säubern der durch Minen verseuchten Gebiete vorantreiben. Und zu den Aufgaben der ersten Stunde gehört, mit allen Nachbarn ein konstruktives Verhältnis anzustreben, damit der Neuanfang und die Weichenstellung für die Loya Jirga, die Große Versammlung unter dem Vorsitz von Zahir Shah im Juni, möglichst ohne äußere Einmischung vonstatten gehen können. Nur dann kann aus dem Interimspremier auch der künftige Regierungschef Afghanistans werden.
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