Billigflaggen und Briefkastenfirmen
Letztlich sind es vermeintlich einfache Fragen, die selbst Experten umtreiben. Wie funktioniert eigentlich die reale Kommunikation auf Handelsschiffen, deren Besatzung von den Philippinen, aus Indien und Osteuropa kommt? Das will Sebastian Gerhardt wissen, der sich als Redakteur des Magazins »Lunapark21« mit der Schifffahrt beschäftigt. Was wissen die Seeleute über das, was sie transportieren, fragt Sabine Leidig, verkehrspolitische Sprecherin der LINKEN im Bundestag. Für das, was nach den großen Häfen kommt, den Weitertransport, interessiert sich Klaus Schroeter, Leiter der Fachgruppe Schifffahrt bei der ver.di-Bundesverwaltung. Es sind Fragen, die sie der kleinen Reisegruppe »Auf umgekehrten Güterwegen« mitgeben, die sich, organisiert von der Rosa-Luxemburg-Stiftung, mit Arbeitskämpfen und sozialen Konflikten in Berlin, Duisburg und Rotterdam beschäftigen will. Zum Auftakt fand am Dienstag in Berlin eine Diskussionsrunde mit dem Titel »'Safe Havens' oder kein Land in Sicht?« statt.
Klaus Schroeter ist zumindest mit den von ihm selbst unterzeichneten Tarifverträgen für 1900 von knapp 2800 Handelsschiffen deutscher Betreiber nicht unzufrieden. Er erklärt, dass zwar ein deutscher Handwerker für den ausgehandelten Monatslohn eines Maschinisten von 1662 Dollar nicht arbeiten würde, dies aber auf den Philippinen dem Einkommen hoher Beamter entspreche. Möglich sind solche Löhne überhaupt nur, weil die Schiffe deutscher Reeder unter Billigflaggen fahren, bei denen man sich über in Büros in New York oder Hamburg anmelden und sehr viel Geld sparen kann. Vergleichbar mit Briefkastenfirmen sei das, meint Sabine Leidig, die solche legalen Steuervermeidungsmethoden skandalisieren will.
Tatsächlich können sich auch Reeder, die unter deutscher Flagge fahren, keineswegs beschweren. Sie werden bereits mit dreistelligen Millionenbeträgen jährlich für ihre 155 Schiffe subventioniert, erklärt Schroeter, und können seit Juni außerdem die Lohnsteuer ihrer Beschäftigen komplett selbst einbehalten. Dagegen dürften die Arbeitsplätze europäischer Seeleute unsicherer werden, da nach der geplanten Regelung für Schiffsbesetzungen künftig nur noch zwei statt vier Offiziere aus der EU stammen müssen. Obwohl die Internationale Transportarbeiter-Föderation (ITF), zu der ver.di gehört, den ersten weltweit gültigen Tarifvertrag für sich beanspruchen kann – ein Erfolg ihrer jahrzehntelangen Kampagne zu den Beschäftigten auf Schiffen, die unter Billigflaggen fahren – gibt es genug Baustellen in der Branche, die so globalisiert ist wie keine andere.
Es ist gleichzeitig eine Branche die schrumpft, zumindest, was die Klientel von ver.di angeht. Kaum mehr als deutsche 5000 Seeleute werden noch gezählt. Und das, obwohl Deutschland im Transport von Autos und anderen verarbeiteten Gütern Platz 1 der Welt belegt. Während immer größere Schiffe gebaut werden, werden dafür keine größeren Crews benötigt, und die Automatisierung schreitet nicht nur in den Containerterminals voran.
Sebastian Gerhardt erinnert daran, dass es große politische Gestaltungsspielräume gerade in und um die Häfen gibt. So könnten kämpferische Gewerkschaften nachhaltige Veränderungen bewirken, wie etwa an der Westküste der USA geschehen. Aber Häfen seien auch immer Grenzen, wo es um politische Hoheiten und die Kontrolle wichtiger, bislang meist öffentlicher Infrastruktur gehe. Zwar meinten Unternehmen, es sei möglich, diese profitabel zu betreiben. »Aber möglich heißt nicht unbedingt machen.«
Weitgehend einig waren sich die Teilnehmer der Veranstaltung, dass das »immer größer, immer weiter« in der Handelsschifffahrt gesellschaftlich unverantwortlich sei. Auf der einen Seite Schiffe mit 22.000 TEU (Standardcontainern) Fassungsvermögen in Planung und noch drei Oligopole, die bestrebt sind, immer größere Teile der Wertschöpfungskette unter ihre Kontrolle zu bringen, und auf der anderen Seite unabschätzbare Kosten für Natur und Umwelt, die die Gesellschaft tragen muss – ein Trend, den Sabine Leidig umkehren will: »Die Mehrheit sagt, so kann es nicht weitergehen«, sagt sie und schlägt Bündnisse aus Beschäftigten, Aktivisten und der wachstumskritischen Bevölkerung vor.
Zumindest steht es um die gewerkschaftliche Organisierung in und um die Schifffahrt hierzulande so gut, dass, anders als in anderen Branchen, bei Beschwerden von Seeleuten meist ein Brief an den Arbeitgeber genüge, um die Dinge zu regeln, erzählt Klaus Schroeter. Nicht zuletzt könnten sich die Seeleute der Unterstützung der Hafenarbeiter sicher sein – und bisweilen drei Leute genügen, um ein Schiff vorübergehend aus dem Verkehr zu ziehen.
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