Werbung

Ein gewaltiges Problem mit Homophobie

Schwulenfeindlichkeit ist in der muslimischen Welt ein weit verbreitetes Phänomen, meint Fabian Köhler. Das war mal anders - und zum Teil ist es das noch heute

  • Fabian Köhler
  • Lesedauer: 3 Min.

Selbst wenn es ein verwirrter Psychopath war, der unter dem Druck seines erzkonservativen Elternhauses nicht mit seiner eigenen Sexualität klar kam. Selbst wenn es sich bei Omar Mateen um einen US-amerikanischen Waffennarr handelte, der tat, was Waffennarren in den USA mit tödlicher Verlässlichkeit immer wieder tun. Selbst wenn auch evangelikale Christen jenen Hass in sich tragen, der 49 Menschen das Leben kostete. Selbst wenn der Anschlag auf einen Schwulenclub in Orlando rein gar nichts damit zu tun hat, dass Mateen Muslim war. Man kommt trotzdem nicht umhin festzustellen, dass viele Muslime, die islamische Welt, der Islam ein gewaltiges Problem mit Homophobie haben. Oder besser: Dass viele Homosexuelle ein riesiges Problem mit ihrer islamischen Umwelt haben.

In Iran hängen die Leichen von Homosexuellen an Baukränen, in Saudi-Arabien peitschen Sadisten Schwule zu Tode. In Syrien stürzt der selbst ernannte Islamische Staat (IS) Menschen von Hochhäusern, weil sie aus Sicht der Terroristen den falschen lieben. Umfragen unter Jugendlichen in muslimischen Ländern zeugen von einem weit verbreiteten Hass auf Homosexuelle. Nahezu alle religiösen Autoritäten, die im Islam Gehör finden, lehnen Homosexualität ab. Kurz: In der islamischen Welt öffnet sich ein Abgrund aus sexueller Verklemmtheit, Bigotterie und Schwulenfeindlichkeit.

Und dennoch ist das bestenfalls die Hälfte der Wahrheit. Nein, der Weg des Islam führt nicht zwangsläufig auf den leichenübersäten Boden des Pulse-Clubs in Orlando. Es gibt eine islamische Realität von Liebe, Zuneigung und Sex, die sich nur schwer mit dem Wissen um die weit verbreitete Homophobie unter Muslimen vereinbaren lässt. Die heute weniger bekannte Geschichte des Islam ist keine des Hasses, sondern der Liebe - die zum gleichen Geschlecht. In allen islamischen Dynastien vom 8. Jahrhundert bis zum Osmanischen Reich konnten Männer und Frauen unter einander treiben, was sie wollten. Rund 1000 Jahre lang hat die islamische Welt Formen der Homoerotik und Homosexualität zelebriert wie wahrscheinlich keine andere. Schon gar nicht Europa.

»Islamisch« - das ist auch das Attribut für eine Welt, die anders als das christliche Europa ohne Scheiterhaufen, »Sodomiterverfolgung«, Vertreibung, soziale Ächtung, psychiatrische Zwangseinweisung und Konzentrationslager für Homosexuelle auskam. So selbstverständlich der vermeintlich tolerante Europäer heute auf den homophoben Muslim herabschaut, galten dem christlich-verklemmten Abendland Muslime noch bis Anfang des vergangenen Jahrhunderts als sexuell enthemmt, freizügig und schwul. Dass Homophobie zwischen Marokko und Indien jahrhundertelang so gut wie unbekannt war, auch das hat etwas mit dem Islam zu tun.

Zu der Wahrheit, dass Homophobie etwas mit Islam zu tun hat, gehört eben auch ihr Gegenteil: Heute noch ist es für einen Heranwachsenden in der islamischen Welt viel wahrscheinlicher, gleichgeschlechtliche Erfahrungen zu machen als für seine Altersgenossen im vermeintlich liberalen Westen. Islam, das ist auch Gruppenmasturbation und Oralsex mit den pubertierenden Kumpels. Das sind Männer, die händehaltend arabische Straßen entlanglaufen und sich mit Küsschen überschütten. Islam ist Hamam-Besuch - nicht nur zum Baden. Islam bedeutet für Millionen von Menschen eine gleichgeschlechtliche Intimität, die für die meisten christlich-westlichen Heteros unvorstellbar ist.

Das alles macht die Toten von Orlando nicht wieder lebendig. Und es ändert auch nichts an der Verfolgung von Homosexuellen in der islamischen Welt, nichts an dem religiös legitimierten Hass, den sexuelle Komplexen, den Vorurteilen. Es ändert nichts daran, dass es Menschen immer wieder schaffen werden, die Welt tiefschwarz erscheinen zu lassen - wie die Fahne des IS, zu dem sich Omar Mateen bekannte. Aber es erinnert daran, dass sie damit nicht recht haben: Denn die Welt ist bunt wie eine Regenbogenfahne. Auch die islamische.

Wir-schenken-uns-nichts
Unsere Weihnachtsaktion bringt nicht nur Lesefreude, sondern auch Wärme und Festlichkeit ins Haus. Zum dreimonatigen Probeabo gibt es ein Paar linke Socken und eine Flasche prickelnden Sekko Soziale – perfekt für eine entspannte Winterzeit. Ein Geschenk, das informiert, wärmt und das Aussteiger-Programm von EXIT-Deutschland unterstützt. Jetzt ein Wir-schenken-uns-nichts-Geschenk bestellen.

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.